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Acqua Mortale

Acqua Mortale

Titel: Acqua Mortale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Foersch
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ihre Lippen waren ein wenig zu voll. Sie waren geschwollen wie unter Insektenstichen, wohl die Folge eines chirurgischen Eingriffs. Lunau hasste Schönheitsoperationen. Er hatte zu viele Kliniken gesehen, in denen es an allem fehlte, an Ärzten, Betten, Dachschindeln und Verbandszeug, an allem, nur nicht an Patienten. Er hatte in einer Klinik gefilmt, in der Krankenpfleger versuchten, einen Blinddarmdurchbruch zu operieren, weil der einzige Arzt verhaftet worden war, während seine Kollegen in der Ersten Welt gesunde, aber wenig graziöse Nasenbeine zertrümmerten, mit Silikonimplantaten Gesäßmuskeln rundeten und Gesichtsnerven mit Botox lahmlegten, damit durch Lächeln keine Falten entstanden. Diese Frau passte nichtzu Di Natale, zu diesem schlichten Haus und der zwanglosen Familie.
    Eine peinliche Stille hatte sich über die Familie gelegt.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Lunau, um die Situation zu überspielen.
    »Ganz meinerseits.«
    Sie gab ihm die Hand – angenehm entschlossen und warm – und lächelte. Ihm wurde klar, dass die Stille nur in seinem Kopf eingetreten war. Die Kinder und der Gatte hatten weiter getollt, das Papier von den Geschenken gerissen und die Pappschachteln geöffnet. Amanda ließ sich den Bagger und die sprechende Ziege vorführen.
    Das Essen war exzellent, selbst gemachte Tagliatelle mit Wildschweinragout und ein Rinderbraten, und es kostete Lunau gehörige Mühe, den in den Kristallgläsern leuchtenden rubinroten Wein abzulehnen. Di Natales tranken ausgelassen und wurden immer ausgelassener. Obwohl Vito peinlich genau darauf achtete, wie viel seine Kinder aßen, ja sogar darüber Buch führte.
    Die Kinder waren nicht ungezogen, aber lebendig. Lunau griff sich immer wieder an die Ohrstöpsel, schob sie tiefer in die Gehörgänge, bis er Mühe hatte, dem Gespräch zu folgen.
    Lunau hatte seit längerer Zeit Probleme mit dem Gehör. Er konnte Lärm nicht ertragen, auch deshalb nicht, weil er nur bedingt fähig war, seine akustischen Wahrnehmungen zu hierarchisieren. Jeder normale Mensch hört so ähnlich wie er sieht: Er rückt etwas, das ihn interessiert, lockt, vergnügt, in den Vordergrund und blendet Störendes, Unangenehmes aus. Die Augen unterstützen diese Selektion durch Muskelbewegungen. Hals- und Nacken- sowie extraokulare Muskulatur richten den Augapfel auf das gewünschte Objekt aus und verformen ihn so weit, dass sich dessen Bild auf der Netzhaut scharf abzeichnet. Vergleichbares lässt sich mit unserem Gehör nicht bewerkstelligen.Wir hören grundsätzlich stereophon, können zwar den Kopf so drehen, dass die Ohrmuscheln bestimmte Signale besser einfangen als andere, aber wir nehmen im 360°-Winkel Reize auf. Das Gehirn muss einen größeren Aufwand betreiben, um das Interessante »laut« zu stellen und alles andere leise. Lunaus Hirn hatte diese Fähigkeit weitgehend verloren. Er hörte so »objektiv« wie ein Mikrophon. Wenn eine Gabel mit 32 Dezibel auf einen Tellerrand schlug und sein Gegenüber mit 32 Dezibel sprach, dann hörte er die beiden Ereignisse gleichberechtigt. Dazu, etwas leiser, die Schuhsohlen auf dem Boden, das Gebläse der Dunstabzugshaube in der Küche, das Knacken der Dielen im Obergeschoss, das Vibrieren der Fenster bei leichten Böen. Wenn dann noch vier recht starke Geräuschquellen wie diese Familienmitglieder auf ihn einwirkten, dann geriet sein Gehirn schnell derart in Schieflage, dass es nur noch ein Signal aussandte: Schmerz. Nichts wie weg.
    »Diese ganz unvermeidliche Reaktion ist höchst problematisch«, hatten die Ärzte übereinstimmend gesagt. »Denn wenn Hören für sie zur Qual wird, dann wird ihr Gehör sie schützen wollen und unempfindlicher werden. Mit einem Wort: Wenn Ihnen Hören nicht bald wieder Spaß macht, werden Sie ertauben.«
    Irgendwann war der Nachtisch gegessen, und Mirko kam mit einem bunten Beutel, auf dem ein Frosch mit riesigem Maul grinste, an den Tisch. Vito überschlug die Broteinheiten, die sein Sohn gegessen hatte, sog Insulin mit einer Spritze auf und setzte sie ihm auf den nackten Bauch. »Diabetes«, sagte Di Natale.
    Während Silvia die Kinder ins Bett brachte, führte Di Natale Lunau und Amanda ins Wohnzimmer. Das Haus war unaufwendig, aber geschmackvoll eingerichtet. Die Klinkerwände unverputzt, davor Regale aus dunklem groben Holz, einige kuriose Bilder aus bunten Holzteilen. Durch die Terrassentür sah manRasen, Plastikspielzeug, Büsche und die Lichtreflexe auf dem finsteren Fluss. Di

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