Acqua Mortale
warm, um wach zu werden.
Sie zitterte, und ihr war schlecht. Fast vier Jahre hatte sie auf diesen Augenblick gewartet, hatte Flugblätter geschrieben, Freunde versammelt, Internet-Blogs gegründet und die Fankurve im Stadion für sich gewonnen. 4 Uhr 27 zeigte damals das Display ihres Handys an. Die Stimme von Laura, Marcos Schwester, hatte sich ganz sanft in ihr Bewusstsein gedrängt: »Marco hatte einen Unfall« – »Schlimm?« Laura hatte leise zu schluchzen angefangen. »Er liegt im Krankenhaus, sie sagen mir nichts Genaues.« Amanda hatte gespürt, wie es ihren Magen langsam nach unten zog. Sie hatte gespürt, dass sich etwas für immer in ihrem Leben veränderte, gegen ihren Willen. »Hatte er einen Helm auf ?«, fragte sie. – »Er war zu Fuß unterwegs.« Gott sei Dank, dachte Amanda. Noch kannte sie die Bilder aus den Akten nicht: Die Schwellungen über den Jochbögen, die aufgeplatzte Haut, das zermatschte Gesicht, in dem man lange nach irgendeiner Spur von Marco suchen musste. Und hätte sie Marcos Eltern nicht dazu überredet, einen Anwalt zu engagieren und ihre festverzinslichen Wertpapiere für eine zweite Autopsie zu liquidieren, dann hätte sie diese Bilder aus den Polizeiakten wohl nie zu Gesicht bekommen.
Sie schaute auf ihr Handy. Keine Nachricht. Die Verhandlung war nicht im letzten Moment verschoben worden. Zwar brauchte es ein Wunder, wenn die Schweine nicht ungeschoren davonkommen sollten, aber warum sollte dieses Wunder nicht eintreten? Dass es zu einer offiziellen Anklageerhebung kommen würde, hatte auch keiner für möglich gehalten.
Es dauerte lange, bis die Zuckerlösung, mit der Amanda gewöhnlich ihre Haare in Form brachte, herausgewaschen war. Sie schlüpfte in ihren Bademantel, kehrte in ihr Zimmer zurück und legte Marcos letzte CD ein: »Kopfformat«, seine Stimme klang heiser über dem trockenen Beat: »Sie brauchen dein Hirn, aber nicht deinen Geist, ihre Viren fressen sich in deine Dateien, fressenErinnerung, fressen Hoffnung und geben dir Angst dafür. Angst fesselt dich, an den Rechner, an die Tastatur, deine Finger geben Daten ein, für sie. Deine Finger geben Daten ein, für sie. Datensätze, die dein Hirn lähmen, Datensätze, Ecksätze, Umsätze, Zinssätze. Zeug ein Kind, bau ein Haus, nimm Kredit auf. Nimm Kredit auf, auf die Erbsünde folgt die Bausünde. Du wirst zahlen, bis ans Ende deiner Tage, für ein Paradies. Das es nicht gibt. Wenn nicht du es schaffst. Formatier deinen Kopf neu. Alle Daten löschen? Ja!«
Tränen liefen ihr über die Wangen, aber die Wut behielt die Oberhand über die Melancholie. Sie rief ihren Blog auf und schrieb: »In zwei Stunden ist es soweit: Die Schweine werden vor dem Richter erscheinen. Sie werden ihre Visiere ablegen müssen. Sie werden uns ins Gesicht sehen müssen und Antworten geben. Nicht nur uns, sondern auch der internationalen Presse. Ich habe dafür gesorgt, dass wir nicht allein sind, dass die schmutzige Wäsche nicht wieder in der Familie gewaschen wird. Ich erwarte von euch, dass ihr noch einmal euren Arsch bewegt. Flagge zeigen, das ist heute das Mindeste!«
Sie wischte sich die Tränen ab und konzentrierte sich auf ihr Äußeres. Nichts sollte heute sein wie sonst. Sie kämmte und föhnte ihre Haare, zog einen weißen Spitzen-BH an, darüber die Bluse und den Hosenanzug. Am Ende sah sie aus wie eine Chefsekretärin. Marco würde sie gefallen. In manchen Dingen war er altmodisch. Auf Schminke verzichtete sie, denn sie fürchtete, dass dies nicht die letzten Tränen des Tages gewesen waren.
Als sie hinunter in die Wohnküche kam, saßen ihre Eltern schon beim Frühstück. Gianna, die Ukrainerin, servierte und lächelte Amanda an.
»Was ist denn mit unserer Tochter passiert? Willst du einem Professor imponieren?«, fragte ihr Vater zwinkernd und blies über seinen Espresso.
»Nein, Marco.«
Adelchi Schiavon setzte die Tasse ab.
»Heißt das, du gehst heute nicht in die Uni?«
Amanda winkte nur ab. Sie überlegte einen Moment, ob sie wenigstens ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange geben sollte, aber wozu wäre die Heuchelei gut gewesen? Sie erwiderte das Lächeln der Haushälterin und sagte: »Ciao, Gianna.« Dann wandte sie sich an die Eltern: »Macht’s gut. Es lebe der Duce.«
Als sie die Tür zuwarf, hörte sie noch, wie ihr Vater auf die beiden Frauen einschrie.
Lunau stand mit dem Mini vor der Villa. »Gute Idee, sich dezent zu kleiden. Wir wären sonst jedem sofort ins Auge gesprungen«, sagte
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