Acqua Mortale
breit, dass man eine leichte Wölbung der Oberfläche zu erkennen meinte. Ein kühler, algiger Hauch kroch vom Wasser unter die Kleidung, kratzte am Windschutz des Mikrophons und ließ das Laub der Pappeln silbrig flimmern. Diese bewaldeten den Uferstreifen in kilometerlanger geometrisch strenger Formation, dazwischen Wildnis, Buschwerk, Spuren von streunenden Hunden und Wildschweinen, am Horizont rauchten die Schlote der Chemiewerke. Und darüber ein Himmel, der sich so unendlich hoch wölbte und so tief herunterreichte, dass man sich fragte, ob die Welt nicht doch eine Scheibe sei.
Das Handy klingelte, zum siebten Mal. Zum siebten Mal war es Amanda. Sie war wütend auf den Richter, auf Lunau, auf die ganze Welt. Die Verteidigung der Beamten hatte einen Befangenheitsantrag gestellt, gegen das Richtergespann und gegen das Gericht als öffentlichen Ort. Angeblich habe im Publikum eine feindselige Atmosphäre geherrscht, die eine ausgewogene Beurteilung der Sachlage verhindere. Der Richter hatte daraufhin die Sitzung vertagt, um den Obersten Richterrat über diesen Antrag entscheiden zu lassen.
Lunau überlegte, ob er den Anruf nicht einfach zurückweisen sollte, aber das Mädchen tat ihm leid. Hätte er vorher gewusst, dass sie in das Opfer verliebt gewesen war, dass sie ein Paar gewesen waren, dann hätte er sich auf die Geschichte nicht eingelassen.
Sie weinte.
»Amanda, mit dieser Taktik war zu rechnen.«
»Jetzt hast du gesehen, was das für Schweine sind.«
»Die Verteidiger machen nur ihren Job.«
»Das nennst du einen Job? Sie wissen genau, dass die Bullen Marco erschlagen haben, aus reinem Sadismus.«
»Wichtig ist, dass du und deine Freunde jetzt still halten. Auch bei der nächsten Verhandlung müsst ihr euch, egal was passiert, diszipliniert verhalten. Ihr dürft der Gegenseite keinen Vorwand liefern, neue Befangenheitsanträge zu stellen oder die Sitzung abbrechen zu lassen.«
»Der nächste Termin ist noch nicht einmal festgelegt. Und es geht gar nicht darum, dass sie Marco umgebracht haben.«
Sie schluchzte, und er spürte das Verlangen, sie in den Arm zu nehmen.
»Amanda, ich werde euch helfen, so gut ich kann.«
»Ach ja? Das hat man heute gesehen. Du redest genauso einen Scheiß wie die Bullen und die Anwälte. Da kann ich gleich mit meinem Alten sprechen. Und die Interviews?«
»Ihr seid alle so aufgebracht.«
»Du meinst: befangen?«
»Es hat keinen Sinn, jetzt mit Marcos Mutter zu reden. Ich sehe zu, dass ich meine Reise-Impressionen in den Kasten kriege, und danach habe ich Zeit und Energie für euch.«
»Ist klar.«
Sie hatte aufgelegt.
Lunau kraxelte die von duftendem Gras und Gestrüpp bewachsene Deichflanke hoch. Sie war so steil, dass er immer wieder ausglitt. Der Deich war auf der Flussseite als vierzehn Meter hohe Böschung angelegt, auf der Landseite war er terrassiert. Ein wuchtiger Koloss, der sich auf beiden Seiten des Flusses entlangschlängelte. Aufgeschüttet in jahrzehntelanger unbezahlter Kleinarbeit, von den Bewohnern der Po-Ebene, die morgens um drei mitihren Schaufeln und Schubkarren von zu Hause aufbrachen, bevor sie ihrer eigentlichen Arbeit nachgingen. In der Brusttasche war Lunaus Korg, und wenn er allzu heftig mit den Armen ruderte, dann verursachte das dünne Mikrophonkabel krachende Geräusche in der Aufnahme. Als er oben stand, erfasste ihn eine heftige Windbö. Sie schabte an dem Schaumstoff, der die Mikrophonkapseln bedeckte. Solche Stellen waren technisch unbrauchbar. Aber hinter dem Kratzen hatte Lunau etwas wahrgenommen. Einen zarten Ton, eigentlich eine Vielzahl von Tönen, wie er sie noch nie gehört hatte. Ein stilles, dichtes Tröpfeln flirrender Einzeltöne, die einen reinen e-Moll-Dreiklang umspielten. War das Musik? Ein Glockenspiel? Aber wo sollte das herkommen? Weit und breit nur Wasser und Wildnis. Im Deichvorland kein Mensch. Oder hatte Lunau sich auch diese Töne nur eingebildet? Er stoppte die Aufnahme und spielte die letzten Sekunden noch einmal ab. Das war keine Halluzination gewesen. Da waren sie wieder: zarte, unregelmäßig zusammenspielende Töne, die keinem festen Rhythmus folgten, aber einer reinen Stimmung entsprachen, wie sie seit dem Spätbarock nicht mehr verwendet wurde. Lunau nahm die Mikrostöpsel aus den Ohren, lauschte in die Ferne. Nichts. Er setzte das Mikrophon wieder auf, drehte den Pegel hoch. Das Mikrophon konnte noch feiner hören als Lunau. Aber es hatte auch bei höchster Empfindlichkeit nichts aufgezeichnet.
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