Acqua Mortale
weiter.
»Entschuldigung, ich habe mich im Zimmer geirrt.«
»Das will ich meinen.«
»Würden Sie mich einen Moment begleiten?«
»Wohin denn?«
»Wohin wohl? Da rüber. Er bringt sie um!«
Der Mann schaute skeptisch. Und tatsächlich war der Geräuschpegel gesunken. Vielleicht hatte der Schläger gemerkt, dass er inzwischen Ohrenzeugen hatte. Die Lärmquelle lag hinter der Tür zum Zimmer 19, auf der anderen Seite des Korridors.
Lunau wies mit dem Kinn in die Richtung.
Der Mann zog die Augenbrauen hoch und schüttelte verwirrt den Kopf. »Wovon reden Sie?«
Nachdem Lunau sich umgedreht hatte, kam der Lärm aus der 11. Je nachdem in welche Richtung er sah, änderte sich auch die Position der Geräuschquelle. Lunau entschuldigte sich kleinlaut bei dem Mann und ging zurück auf sein Zimmer. Cremefarbene Wände, Terrakottafliesen, ein Doppelbett, ein kleinerSekretär mit Stuhl, ein Schrank. Genau wie am Nachmittag. Von halb rechts kam jetzt der Ehekrach, wieder aus Zimmer 12, wo der einsame Mann mit dem grauen Haar schlief. Also wieder nur eine Halluzination.
Lunaus Herz raste. Irgendwie hatte er gehofft, er hätte seine Probleme allmählich im Griff, die Einsamkeit in seiner ehemaligen Wagenremise, die stillen Stunden hätten für eine Entzerrung gesorgt. Und selbst diese Auslandsreise schien die heilsame Wirkung anfangs zu verstärken. Das gleichmäßige Singen der Flugzeugtriebwerke, das melodiöse Gewirr italienischer Stimmen. Fast drei Uhr. Er dachte an Paul und Stefan, die jetzt in ihren Zimmern lagen und schliefen. Er dachte an sein einstiges Abendritual, wie er vor dem Zubettgehen noch einmal in die beiden Kinderzimmer blickte, die süßliche Wärme spürte, die von den schlafenden Körpern aufstieg, ihren Atem an seinem Ohr. Es war der schönste Augenblick des Tages, wenn alles geschafft war und er sich zur Belohnung noch ein paar Minuten auf den Boden setzte, Paul und Stefan betrachtete, ihnen über das Haar, über einen kleinen, nackten Fuß strich, der sich aus der Bettdecke hervorgearbeitet hatte und einen Traum mit sanften Ruderbewegungen auf dem Laken begleitete.
In Lunaus Kopf ging unterdessen das Spektakel weiter. Er wusste nicht, ob das die Tonspur aus einem Film war, den er irgendwann gesehen hatte, oder seine eigene Erfindung.
Er spürte das Bedürfnis, Jette anzurufen. Ihre Reaktion konnte er sich ausmalen, um vier Uhr morgens. Er stand auf, öffnete die Minibar. Die Flaschen standen in einem strahlenden Lichtkeil, mit einem sanften Klirren waren sie aneinander gestoßen. Traubentrester, den man hatte vergären lassen, um ihn dann zu destillieren, 40 % Volumenalkohol; Kräutersud, den man mit Industriealkohol zu Likör verwandelt hatte, 28 %. Seine Zunge war trocken, seine Hände zitterten. Die Bierflaschen waren Null Zwo,fünf Prozent Volumenalkohol, das hieß, wenn er ein Bier trank, dann nahm er gerade mal ein Gramm reinen Alkohol zu sich. Was war das schon? In einem achtzig Kilo schweren Körper? In einem grenzenlosen, sich ständig weitenden Kosmos?
Wütend warf er die Tür zu und legte sich wieder hin. Er würde nicht einknicken. Den letzten Rest Selbstachtung würde er über die Zeit retten. Über welche Zeit? Und wozu? Das war das Problem. Der Alkohol fing wieder an, für ihn das Denken zu übernehmen. Wenn er sich vorsagte: Alkohol ist keine Lösung, dann antwortete der Alkohol: Kommt auf die Dosierung an. Der Alkohol hatte alle schlagenden Argumente auf seiner Seite. Und davor musste Lunau die Ohren verschließen. Die Ohren verschließen, dachte er. Mein Spezialgebiet.
8
Amanda sprang aus dem Bett und öffnete die schweren Spiegeltüren ihres Schrankes. Endlich war diese Nacht vorbei. Endlich war Donnerstag, der 29. Mai. Stundenlang hatte sie sich im Bett gewälzt, der Alkohol hatte ihr nicht den erhofften komatösen Schlaf beschert. Sie schaute unschlüssig auf die Kleider, die, auf einem Meter achtzig Breite, an der Aluminiumstange hingen. Sie fühlte sich schwach, ausgelaugt und nervös. Kein Outfit schien ihr angemessen für die Situation. Sie wollte sie selbst sein und gleichzeitig ein Zeichen setzen. Für Marco, der sie von irgendwo her betrachten würde. Aber wie? Sie lief zu ihrem Schreibtisch, fuhr den Laptop hoch, trat wieder an den Schrank, holte eine weiße Seidenbluse und einen grauen Hosenanzug hervor, dann ging sie in das kleine Bad, das zu ihrem Schlafzimmer gehörte, und stellte sich unter die Dusche. Sie schob die Mischbatterie abwechselnd auf kalt und
Weitere Kostenlose Bücher