Acqua Mortale
überproportional zu verstärken, sie krachten in sein Bewusstsein, als befände er sich in dem Dämmerzustand, kurz vor dem Einschlafen, in dem man jeden Laut überdeutlich wahrnimmt. Doch plötzlich knallte und schepperte es nur noch, man rempelte Lunau an. Der Holzhammer des Richters platzte durch den Wust an Schallwellen. Die Leute waren aufgesprungen, zwischen Jugendlichen und Polizei kam es zu einem Gerangel.
»Meine Herrschaften, meine Herrschaften«, schrie der Richter immer wieder, und dann strömte die Menge ins Freie. Lunau sprang auf und wurde mitgerissen. Der Menschenstrom massierte sich an der Tür, Lunau wurde eingeklemmt, bekam einen Ellbogen in die Rippen, eine ältere Dame kreischte. Er wollte nur noch an die Luft. Aber das wollten alle. Im Treppenhaus wurde geschoben und geknufft, Polizisten versuchten, den Abfluss zu steuern, sie redeten beschwichtigend auf die Menschen ein und halfen Alten, die in Schwierigkeiten gerieten. Als Lunau im Freien war, scherte er aus der Menschenmenge aus. Alle strebten dem Tor zur Via Bocca dei Leoni zu, Lunau setzte sich auf ein Mäuerchen und wartete. Er lehnte den Hinterkopf an die kühle Mauer und hörte zu, wie sich das Tohuwabohu ganz allmählich zerstreute, in die umliegenden Gassen floss und abschwoll. Ein Polizeiauto stellte das Martinshorn an und fuhr mit quietschenden Reifen davon, dann folgte ein ganzer Konvoi, das brachte die Menge noch einmal zum Kochen, aber dann ebbte der Lärm ab, und es wurde auf wundersame Weise still in dem weiten Hof.
9
Lunau stand unter der riesigen Eisenbahnbrücke, über die ein Eurostar donnerte. Die Stahlkonstruktion ächzte und knirbelte, der Schall wurde von der Flussoberfläche reflektiert und hallte lange an den Deichflanken nach. Lunau sah, wie der Aufnahmepegel in den kritischen Bereich leckte, drosselte ihn vorsichtig und schloss die Augen. Sagenhaft, dieses akustische Spektakel, auch wenn es nur ein Effekt war, ohne Aussage. Lunau arbeitete mit seinem Lieblingsmikro, einem winzigen Kunstkopfmikrophon, und seinem Lieblingsrekorder, einem zigarettenschachtelgroßen Digitalrekorder von Korg. Auf der Festplatte war Platzfür zwanzig Stunden Material. Das Mikrophon war unauffällig und behinderte Lunau nicht, es steckte in seinen Ohren wie ein kleiner Kopfhörer und nahm im 360°-Winkel auf. Eigentlich war dieses Mikrophon die technische Umsetzung seiner Krankheit. Oder seine Krankheit war die Weiterführung dieses Mikrophons.
Lunau hatte sich zwei Arbeitstage freistellen lassen. Außerdem stand ihm das Wochenende zur Verfügung. Marcos Geschichte ließ sich in diesen vier Tagen nicht rekonstruieren. Der Prozess gegen die Polizisten würde sich noch über Monate, wenn nicht Jahre hinziehen. Lunau würde seine Reisebilder einfangen und am Sonntag nach Berlin zurückkehren. Mit den letzten fünf Stunden konnte er zufrieden sein. Nachdem er lange unter der Dusche gestanden hatte – das Rauschen und Brausen in seinen Ohren beruhigte sein Gehör nach der Kakophonie im Gerichtssaal –, hatte er angefangen, Ferrara und Umgebung zu erkunden, hatte Atmosphären und Interviews mit »Originalen« aufgezeichnet, an die Di Natale ihn verwiesen hatte: Ein alter Mann, der für eine schwimmende Brücke lebte, die es nicht mehr gab, die letzte »Fährfrau« am Hauptarm des Po, einen Bootsbauer, der noch in Handarbeit die Sandola , den typischen schlanken Nachen, zimmern konnte. In seinem Notizbuch standen außerdem noch ein Schleusenwärter, ein Korbflechter und ein Störfischer, der, da es im Po keine Störe mehr gab, seinen Pfahlbau am Wasser in ein Museum verwandelt hatte. Nachts dagegen jagte er die Welse, die man im Po ausgesetzt hatte, um Angeltouristen aus Deutschland und Osteuropa anzulocken. Diese Welse wuchsen zu meterlangen Bestien, die bis zu zweihundert Kilo wogen und alles wegfraßen, was einst im Po heimisch gewesen war. Vor allem den Laich der Störe, den Kaviar.
Lunau war durch die Innenstadt gestreift, hatte das Stimmengewirr in den Gassen aufgenommen, das Zischen der großen Espressomaschinen in den Bars, die Marktschreier, die ihre billigenImitate mit den Logos berühmter Designer anpriesen. Er hatte hallende Schritte im Innenhof des Kastells aufgenommen, Möwenschreie, Reiherschwingen, das Surren von Rennradreifen auf der Deichstraße, das Tuckern der Fähre und das Ächzen der Schleusentore.
Die Landschaft um ihn her war surreal. Der Fluss lag wie eine unendliche träge Masse vor Lunau, grau wie Beton, so
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