Acqua Mortale
Nur Wind, ein Sportflugzeug irgendwo im Himmel, ein Zug, der von Süden her in den Bahnhof Ferraras einfuhr. Aus welcher Richtung waren die Töne gekommen? Er fing zu laufen an.
Lunau hatte das untrügliche Gefühl, dass genau hier seine Geschichte begann.
10
In Zeiten der Schneeschmelze steigt der Wasserspiegel des Po schnell um fünf, sechs Meter über Normalniveau. Kommen dann noch Frühlingsregen dazu und womöglich Gegenwind, der den Abfluss ins Meer bremst, dann erreichen die Pegel innerhalb von Stunden die Alarmstufe. In diesem Jahr war der Höhepunkt der Schneeschmelze bereits überschritten, die Spitzenpegel in die Adria abgeflossen. Für die Bevölkerung hieß das Entwarnung, für die Ingenieure von der AIP O Schwerstarbeit. Denn erst jetzt, wenn der Fluss den Blick auf die Deichflanken freigab, wurden die Zerstörungen des Frühlings sichtbar. Ein Deichwächter hatte aktuelle Fotos gemailt. Beppe Pirri strähnte mit seinen Fingern das dichte gelockte Haar, das seinen runden Kopf einrahmte. Er versuchte sich auf die Bilder zu konzentrieren, aber immer wieder schob sich in seinem Kopf das Full House davor. Das höhnische Grinsen der Könige. Diese Karten hätten ihm das Leben retten können, stattdessen waren sie einfach irgendwo in der virtuellen Welt verschwunden.
Kurz vor Ro, einem Dorf 12 km flussabwärts, beschrieb der Fluss eine scharfe Linkskurve. Wie in jeder Kurve eines fließenden Gewässers wurde das Wasser dadurch mit besonderer Wucht gegen die Außenbahn gedrängt, gegen das so genannte Prallufer. Dort nimmt die Fließgeschwindigkeit zu, der Wasserspiegel steigt über das Flussmittel, und in der Tiefe bilden sich Spiralwirbel. Das Prallufer verlangt besondere Sicherung , die Deichkrone muss dort höher sein als auf der Gegenseite, dem Gleitufer, und der Deichfuß muss gegen Erosion geschützt werden. Jedes Jahr verstärkte man an diesem Deichfuß die Schutzmaßnahmen, jedes Jahr spülte das Wasser die Investitionen wieder fort. Im Vorjahr hatte Pirri auf den Tisch gehauen und die Budgetgrenzen ignoriert, um endlich eine langfristige Lösung zu finden. Er hattehochwertiges Material aus Südtirol anliefern und eine Schüttung klobiger Steine vornehmen lassen. Doch das Wasser hatte auch den Granit mitgenommen und sich tief in das Erdreich des Deiches gefressen. Die Stelle musste noch aufwendiger gesichert werden, und zwar schnell. Eigentlich kam nur Mauerwerk in Frage. Unbezahlbar. Pirri brauchte eine geniale Idee, aber immer wieder lenkte ihn die Erinnerung an das Telefonat vom Vorabend ab. Er hatte es stets verstanden, seine beruflichen Anforderungen brillant zu meistern und privat seinen Passionen zu frönen. Nun war etwas aus den Fugen geraten und löste in seinen Schläfen einen schmerzhaften Druck aus.
Er griff zum Telefon und wählte die Nummer des Rathauses. Als man seinen Namen hörte, stellte man ihn sofort durch.
»Die Partei muss mir helfen«, sagte Pirri.
»Du wirst unser Spitzenkandidat, ein größeres Zeichen für unsere Wertschätzung kann es gar nicht geben.«
»Was nützt mir der Sessel in einem Jahr? Ich brauche jetzt Hilfe.«
»Du steckst doch nicht schon wieder in Schwierigkeiten?«
»Natürlich, sonst würde ich dich nicht anrufen.«
Schweigen.
»Ich fürchte, ich weiß, worauf du hinauswillst. Für deine saubere Weste musst du selber sorgen. Wir können keine schlechte Presse gebrauchen.«
»Wer redet denn von der Presse?«
Die Verbindung war schon unterbrochen. Pirri war kein Mann, der bei dem kleinsten Problem in Panik geriet. Aber das war kein kleines Problem mehr. Er brauchte Hilfe. Sofort. Er schaute auf seinen Talisman, die Fluss-Karte, die über seinem Schreibtisch hing. Napoleon hatte sie nach der Eroberung Italiens in Auftrag gegeben. Maßstab 1:500 000. Die schönste Abbildung, die je vom Po entstanden war. Das Rückgrat Italiens, mit seinen Nebenflüssen,die wie Gräten abstanden. Stets waren von dieser Karte Trost und Erbauung für Pirri ausgegangen, von der naiv-liebevollen Farbwahl, den exakten Tuschelinien, mit denen das Flussbett und stilisierte Dörfer, Weiler und Wäldchen gezeichnet worden waren. Das waren keine Landvermesser, sondern Künstler gewesen.
Die vielen tausend Tote, die Napoleon auf den Schlachtfeldern zurückgelassen hatte, waren vergessen, die Karte war geblieben. Die Momente der Poesie waren entscheidend, nicht die Opfer, die man dafür zu bringen hatte. Sollte er jetzt wegen 100 000 Euro die Kontrolle über sein Leben
Weitere Kostenlose Bücher