Acqua Mortale
sagten, ist das unser Job.«
»Was haben Sie der Polizei gesagt?«
Gasparotto schaute Lunau genau an. Und dieser erwartete, dass Gasparotto ihn einfach stehen lassen und auf sein Podium zurückgehen würde. Stattdessen lächelte dieser plötzlich: »Sie sind ein hartnäckiger Mensch.«
»Wenn ich die Karte richtig studiert habe, dann muss Di Natale, um in diesem Schleusentor zu landen, in einem der künstlichen Kanäle ins Wasser gegangen sein. Das ergibt keinen Sinn.«
»Wieso?«
»Wenn ich mich umbringen will – und Di Natale konnte gut schwimmen –, dann suche ich mir ein möglichst großes Gewässer mit starker Strömung. Die Kanäle, die in Frage kommen, sind aber zahm.«
»Nicht am Donnerstag. Im Apennin hatte es Anfang der Woche heftig geregnet, es kam viel Wasser Richtung Po.«
»Wer ist der beste Strömungsexperte Ihrer Behörde?«
»Das war Di Natale.«
»Und an wen kann ich mich jetzt wenden?«
»An mich.«
Gasparotto grinste. Er hatte Lunau erneut überrascht, diesmal mit schwarzem Humor.
»Was schätzen Sie, wie viele Kilometer hat die Leiche zurückgelegt?«
»Das ist beim besten Willen nicht zu sagen.«
»Sagen Sie es trotzdem.«
»Vielleicht fünf, vielleicht fünfundzwanzig. Wir wissen nicht einmal, wie lange die Leiche in der Schleuse hing. Womöglich war sie auch schon lange vorher gegen das Tor geprallt, ehe die Schleuse sich öffnete.«
»Maximaldistanz unter Idealbedingungen?«
»Dreißig Kilometer. Übrigens ist nicht einmal die Fließrichtung in dem Kanal konstant. Sie hängt von den Pegelständen im Hauptarm und den Nebenarmen des Po ab. Die Kanäle dienen als Schifffahrtsverbindung, zur Bewässerung und auch als Hochwasserpuffer. War’s das jetzt?«
Die Lesung war zu Ende, die Zuhörer drängten aus dem Saal.
»Haben Sie eigentlich Pirri gefunden?«, fragte Gasparotto, während er versonnen auf den Büchertisch starrte.
»Wie kommen Sie auf die Idee, dass wir Pirri suchen?«
Gasparotto grinste wieder sein merkwürdiges Grinsen, das die graugelben Zahnzwischenräume freigab.
»Halb Ferrara sucht ihn, und ganz Ferrara weiß es.«
»Haben Sie eine Idee, wo er sein könnte?«
Gasparotto zuckte mit den Achseln. »Was ich weiß, habe ich Ihnen gesagt.«
»Nicht ganz. Wo waren Sie eigentlich an jenem Donnerstagabend?«
Gasparottos Miene änderte sich. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen zur Auskunft verpflichtet bin.«
Lunau schaute ihm direkt in die Augen. »Das sind Sie nicht.«
Er gab ihm die Hand und zog Amanda mit.
»Wenn Ihre reizende junge Begleiterin ihren Vater fragt, dann wissen Sie es«, rief Gasparotto ihnen nach.
Gasparotto wurde umringt von Honoratioren, die ihn für seine interessanten Randbemerkungen lobten. Sie hatten einige Mühe, überzeugende Worte zu finden, aber sie schlugen sich wacker. Lunau und Amanda schauten einander an und traten hinaus auf die stille Gasse.
»War Gasparotto an dem Abend mit deinem Vater zusammen?«, fragte Lunau und starrte auf die große weiße Marmoruhr über dem Haupteingang der Bibliothek. Sie stand.
»Keine Ahnung.«
»Bitte, frag ihn. Und dann müssen wir überprüfen, ob Pirri in einem seiner Ferienhäuser steckt.«
»So blöd ist er nicht. Die Geldeintreiber kennen die Adressen sicher.«
Lunau überlegte. Amanda hatte recht. Aber wo sollte Pirri dann sein?
»Ich habe noch einen wichtigen Termin«, sagte Amanda. Lunau wollte fragen, wo und mit wem, aber er verkniff es sich. Etwas mehr Hartnäckigkeit hätte er sich von Amanda allerdings schon erwartet.
37
Mit dem Leihwagen fuhr Lunau auf den Hauptdeich, bis er wieder auf die Schleusenanlage stieß. Er stellte den Motor ab und starrte auf den Po, der hier von den Deichen eng geführt wurde.
Er ließ die Fenster herunterfahren, um Frischluft in den Wagen zu lassen. Aber plötzlich legte die Müdigkeit sich wie eine bleierne Hand in seinen Nacken. Er war jetzt den fünften Tag in Ferrara, zwei Nächte hatte er kaum geschlafen. Den Tatort konnte er ohne Hilfe nicht finden.
Lunau dachte an das merkwürdige Klingeln, das er auf dem Deich, nur wenige Kilometer flussaufwärts, eingefangen hatte. Ganz sanft drang es in seinen durch den Schlafmangel überreiztes Bewusstsein. Es waren tatsächlich Drei- und Vierklänge, allerdings rein gestimmt. Wenn bestimmte Glöckchen zusammen erklangen, hörte man saubere Terzen, Quinten und Oktaven, wie sie nur noch in der historischen Aufführungspraxis vorkamen.
Darunter lag ein wildes Getrappel, dumpfe Schläge gegen Blech.
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