Acqua Mortale
Stadtzentrum, fuhr auf die Via Pomposa , die Richtung Meer führte und bog in einen Flurbereinigungsweg ab. Die schmale Asphaltstraße schlängelte sich kilometerlangdurch die Ebene. Man konnte bis zum Horizont sehen. Lunau hielt an einem Feldweg, stieg aus dem Wagen und versteckte sich hinter einer Hecke. Er wartete umsonst. Niemand folgte ihm.
35
Es war empfindlich kalt, und Lunau zitterte vor Übermüdung. Inzwischen war der Sonntag angebrochen. Es war zwanzig Stunden her, dass man Vito Di Natales Leiche gefunden hatte. Und nach zwanzig Stunden schien dieser Selbstmord geklärt. Auf den ersten Blick zumindest. Ein Mann in der Midlife-Crisis, der alles aufgeben will und plötzlich vor dem Nichts steht. Ein Mann, der sein gesamtes Umfeld perfekt getäuscht hat, von seiner Frau aber im letzten Moment enttarnt wird. Und wenn alles ganz anders war? Wenn Silvia ihren Mann gezwungen hatte, die Beziehung zu Dany zu beenden? Vielleicht hatte nicht sie mit ihm, sondern er mit ihr Schluss gemacht. Dany hatte die Beherrschung verloren und … Aber wie sollte dieser Windhauch von einem Mädchen einen kräftigen Mann ertränken? Und warum hatte Di Natale Lunau attackiert? Oder war das tatsächlich eine Halluzination gewesen? Die Antwort konnte nur Pirri kennen. Und in Kürze musste er hier auftauchen.
Lunau saß auf dem Metallgeflecht eines Bushäuschens, mit dem Hinterkopf an die Glasscheibe gelehnt. Es war stockdunkel, und die Meeresbrise trug den Duft von Salz und Tang herüber. Die Dünung und vereinzelte Möwenschreie waren die einzigen Geräusche, zu wenig, um das Adrenalin in seinen Adern in Bewegung zu halten. Auf dem Lido di Venezia , einer zehn Kilometer langen Sandbank mit einer einzigen Buslinie und praktisch nur einer Straße, brannte alle 120 Meter eine Laterne. Fragte sich, fürwen. Das Spielcasino hob sich wie ein strahlender Dinosaurier ab aus der Reihe finsterer, verlassener Art-déco-Hotels, zu denen auch das Grand Hôtel des Bains gehörte. Hier hatte Lunau einmal die Ferien verbracht, weil sein Vater das unbedingt wollte. Das sei die wahre Hochkultur, hatte er gemeint, auf Thomas Mann, Gustav Mahler und Luchino Visconti verwiesen. Lunau hatte schon damals die so genannte Hochkultur gehasst. Vera war seit einem halben Jahr verschwunden, und nichts war wie vorher. Er hatte sich vorgenommen, hart und stark zu werden. Er hasste das Klavier, er hasste die Geige, er hasste jede Form von Musik. Lunau übte nicht mehr, stattdessen trainierte er heimlich Boxen.
Lunau überlegte noch einmal, was er bisher sicher wusste. Pirri hatte Di Natale am Freitag um 19 Uhr 40 mit einem weißen BMW an dessen Haus abgeholt. Danach hatte Vito seine Geliebte getroffen, einen Korb bekommen und sich umgebracht. Mit einem Koffer voller Geld. Aber wo war das Geld? Und wo war Pirri gewesen, als Dany Di Natale zurückwies?
Im Osten wurde das Grau der Morgendämmerung von hingestaubten Orangetönen aufgelockert, ein Auto fuhr aus einer Tiefgarage, zehn Minuten später lief ein Jogger in Kapuzenpulli am Strand entlang. Lunau hatte übers Internet mitverfolgt, wie Pirri aus dem Turnier geflogen war. Ebenso wie ein Kaffeeröster und ein Mathematiker. Aber noch immer war niemand von ihnen aus dem Gebäude gekommen.
Zwei Männer in dunklen Anzügen traten aus dem Haupteingang des Spielcasinos und postierten sich auf der obersten Treppenstufe, am Rand des roten Teppichs. Jetzt war Lunau wach, trotz des Schlafdefizits. Da erschienen der Professor und der Fabrikant. Pirri war nicht zu sehen.
Lunau rannte auf das Gebäude zu und lief an der Seitenfront entlang. Die Rückfront war durch hohe Pinien und Magnolien verdeckt. Aber es musste mehrere Dienstbotenausgänge geben.Ein Mädchen lief zwischen geparkten Autos hindurch. Ihr Laufstil war verkrampft, weil sie mit dem linken Arm eine Umhängetasche auf die Flanke presste. Die Tasche kannte Lunau, und jetzt erkannte er auch das Mädchen: Amanda. Sie hatte also genauso gut kombiniert wie er. Vielleicht noch ein bisschen besser. Lunau rannte ihr nach. Sein Knöchel stach bei jedem Schritt, aber er konnte Amandas Tempo halten. Nur Pirri sah er nicht.
Amanda lief an der Uferstraße entlang, Richtung Vaporetto-Haltestelle. Falls Pirri noch am Lido war, dann saß er in der Falle, denn der Lido war eine Insel. Das Vaporetto legte nur alle zwanzig Minuten ab.
»Wo ist er?«, rief Lunau, als er Amanda fast eingeholt hatte. Sie wurde langsamer. Sie lehnte sich mit dem Rücken an eine Werbetafel und
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