Acqua Mortale
gespeist wurde. Bisher schien der Bau reibungslos zu funktionieren. Kein Motiv für einen Mord. Lunau ging Monat für Monat durch, aber er stieß auf nichts Auffälliges.
Silvia klopfte und fragte, ob er etwas trinken wolle. Sie schaute die ausgebreiteten Unterlagen an, und Lunau spürte, wie unangenehm es ihr war, dass er das Material durchstöberte. Er sagte nichts dazu, meinte nur, er habe keinen Durst, und arbeitete weiter. Silvia holte die Kinder vom Sport ab, aß mit ihnen zu Abend, Lunauvertrat sich ab und zu die Beine in dem Raum, der nicht größer als eine Klosterzelle war. Aber auch nach zwei Stunden hatte er nichts gefunden. Zu zwei Vorgängen hatte er sich Notizen gemacht, weil er die Fachbegriffe nicht verstand, und vor drei Monaten hatte Di Natale in sein Notizbuch geschrieben: »G. B. uneinsichtig. Prozess unvermeidl.« Lunau suchte nach weiteren Fundstellen mit den Initialen »G. B.« oder einem Klarnamen, der dazu passen könnte. Vergebens.
Er schaltete das Licht an und hörte im Bad die Wasserhähne laufen. Er sah Stefan und Paul vor seinem inneren Auge, wie sie nebeneinander am Waschbecken standen und sich mit den Griffen der Zahnbürsten kitzelten. Wie sie lachend die Zahnpasta an den Spiegel spritzten und das Gurgelwasser einander ins Gesicht spuckten. Wie fehlte ihm jetzt dieser Unsinn.
Lunau spürte, er war mit den Kräften fast am Ende, wurde immer anfälliger für Ablenkungen, aber er wusste auch, dass meist in solchen Situationen die wichtigsten Entdeckungen gemacht werden.
Diesmal war es anders. Die Kinder waren im Bett, Silvia hatte ihnen eine Geschichte erzählt und anschließend ein paar Minuten auf dem Flur gestanden. Sie hatte versucht, ihr Schluchzen zu unterdrücken, aber Lunau hatte es trotzdem gehört. Dazwischen schoben sich wieder Erinnerungen an die eigenen Söhne, ihre schmalen Finger auf der Klaviatur, Klänge. Eine simple Mozart-Variation kreiste durch Lunaus Kopf und erfüllte ihn mit Wehmut. In Di Natales Aufzeichnungen hatte er noch immer nichts gefunden. Allmählich zweifelte Lunau, ob dessen Beruf ein ausreichendes Motiv für einen Mord abgeben konnte. Das letzte Wort hatte in jedem Fall Alberto Gasparotto, bei Großaufträgen sowieso. Ein geprellter oder enttäuschter Geschäftspartner müsste Gasparotto die Pistole an den Schädel halten, nicht Di Natale.
Es fanden sich auch keine Verbindungen zu den anderen Verdächtigen, weder Geschäftsbeziehungen zur AIPO, dem Deichamt, noch zu Zappaterra. Nur zu einer Zweigstelle der AIPO in Venetien hatte Di Natale kürzlich Kontakt aufgenommen. Er bat um die Nutzungskonzession eines Grundstücks im Deichvorland. Die Art der Nutzung wurde nicht genannt.
Lunau war bereits im Vorjahr, dann im Vorvorjahr, als er wieder auf ein Schreiben an die AIP O stieß, diesmal an Giuseppe Pirri. Es wurde ebenfalls um die Nutzungskonzession eines Grundstücks im Deichvorland nachgesucht. Pirris Bescheid war allerdings negativ. »Die geomorphologischen und baustatischen Voraussetzungen für die Erteilung besagter Konzession auf dem Gemarkungsabschnitt F 22/c sind nicht gegeben. Wir müssen Ihre Anfrage daher leider negativ bescheiden.« Lunau photographierte das Schreiben ab und notierte sich das Datum: 24. Mai 2008. Vor fast genau zwei Jahren.
Als Silvia wieder klopfte und mit verheulten Augen eintrat, legte Lunau ihr die Seite von Di Natales Notizbuch vor: »Kennen Sie G. B.?«
Sie trug einen gestreiften Männerpyjama und darüber einen leichten Hausmantel. Ihre schwarzen Locken standen in widerspenstigen Strähnen ab. Lunau fand sie anziehender denn je. Aber er fragte sich, ob es Silvia war, die er anziehend fand. War es nicht dieses Haus, das wie ein Narkotikum wirkte? Er nahm heimlich an einem Leben Teil, wie er es sich immer gewünscht hatte.
Sie schaute Lunau über die Schulter, und er spürte die Wärme ihres Körpers, den Hauch eines Weichspülers oder eines Deos, das nach Piniennadeln, Öl und Meersalz duftete.
»G. B., G. B…«, murmelte Silvia und legte den Kopf schräg.
»Vielleicht der Chef einer Behörde oder ein Unternehmer.«
»Könnte Gianandrea Baiocchi sein.«
»Wer ist das?«
»Ihm gehört ein Hochbau-Unternehmen. Er hat ein, zwei Brücken für das Schifffahrtsamt gebaut, aber dann gab es Streit.«
»Wissen Sie, weshalb?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Vito redete nicht gerne über die Arbeit. Wenn er zu Hause war, wollte er zu Hause sein, in seiner Privatwelt.«
»Dieser Raum wirkt aber nicht so.«
Sie
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