Acqua Mortale
schaute sich um und verzog den Mund. »Na ja, wie er gerade Lust und Laune hatte. Aber es gab etwas an seinem Beruf, was ganz privat war.«
»Wie meinen Sie das?«
Ihre Augen glitten über die Rücken der Aktenordner, über die handgeschriebenen Zeilen in Vitos Notizbüchern.
»Er liebte seine Arbeit auf eine Weise, die keiner bei der ARNI nachvollziehen konnte.«
»Die Arbeit oder den Fluss?«
»Wahrscheinlich haben Sie recht. Es war nicht die Arbeit, es war der Fluss. Sein Fehler war, dass er das eine mit dem anderen vermengte.«
Je länger Silvia in Lunaus Nähe war, desto vertrauter und anziehender kam sie ihm vor. Seit er von Jette getrennt war, hatte keine Frau ihn mehr wirklich interessiert. Er hatte sich immer gegen die Versuchung gewehrt, einen puren Instinkt auszuleben, so auch bei Amanda. Von Silvia ging allerdings eine andere Anziehungskraft aus. Jede ihrer kleinen Gesten interessierte ihn, er spürte das Bedürfnis, mehr von ihr zu erfahren. Die Bücher, die sie mochte, die Kleider, die sie trug.
Lunau war überreizt. Und er war dabei, seine Arbeit mit privaten Gefühlen zu vermengen. Silvia konnte eine Mörderin sein. Und tat alles, um ihn von dieser Idee abzulenken.
49
Lunau zog vorsichtig die Tür zu Vitos Arbeitszimmer zu. Die Kinder schliefen längst, aus dem Wohnzimmer hörte man deutschsprachige Dialoge. Lunau ging die Treppe hinunter und klopfte an die Tür, die halb offen stand. Silvias Locken überragten das Sofa, auf dem Bildschirm sah man einen dicken österreichischen Schauspieler in Schwarzweiß.
»Das falsche Gewicht? Wie kommen Sie auf diesen Film?«, fragte Lunau.
»Für den Unterricht. Joseph Roth. Wenn man Ihnen Literatur schon nicht durch Bücher vermitteln kann, dann versuche ich es eben mit Video.«
»Sie sollten es mit Kraftausdrücken versuchen.«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Wollen Sie ein Glas Wein?«
Die Flasche war fast leer, und es war nicht allein die Müdigkeit, die bleischwer an Silvias Zunge zog. »Gegessen haben Sie auch noch nichts, oder?«, fragte sie.
Sie wollte aufstehen und in die Küche gehen.
»Ich habe keinen Hunger«, log Lunau.
Sie schaltete den Film ab. Man sah nur noch eine giftigblaue Graphik mit dem Markennamen des DVD-Players auf dem Bildschirm. Sie überzog Silvias Gesicht mit einem irrealen Schleier.
»Und, was glauben Sie?«, fragte sie, aber es klang wenig interessiert.
»Das Material ist uferlos und für mich nicht zu durchschauen. Können Sie sich vorstellen, dass ein Geschäftspartner Ihren Mann getötet hat?«
»An wen denken Sie?«
»Dieser Baiocchi, was ist das für ein Typ?«
»Lustesser, Geldsack, hat eine Klitsche vom Vater geerbt undmit Hilfe seiner politischen Verbindungen und unterbezahlter Leiharbeiter ein kleines Imperium aufgebaut.«
»Es wird demnächst zu einem Prozess kommen. Die ARNI hat Baiocchis Firma auf Schadenersatz verklagt.«
»Davon hat Vito nichts erzählt. Wollten Sie ein Glas Wein?«
Lunau zögerte. Die rubinrote Farbe in Silvias Glas war verlockend. Lunau hatte Lust, sich einfach fallenzulassen. Er dachte an die vorletzte Flasche, die er geleert hatte, mit Jette, ein Geschmack von dunklen Waldbeeren, von warmem Ton und würzigem Käse. Und dann dachte er an die letzte Flasche, die er allein geleert hatte, an die vielen letzten Flaschen. »Danke, nein.«
Sie nickte, enttäuscht, und schaute dann auf den kümmerlichen Rest. »Ich habe noch eine.«
»Trotzdem nicht, danke.«
»Warum interessiert Sie die Geschichte eigentlich so?«
Er gab keine Antwort. Es war die Antwort, die er Jette bei jeder Recherche schuldig geblieben war.
»Was steckt dahinter?«, fragte sie.
Lunau zuckte mit den Achseln. »Wir brauchen die Ermittlungsakten. Zeugenaussagen, den Obduktionsbericht usw. Sie sollten als Nebenklägerin auftreten und Akteneinsicht verlangen. Und Sie müssen eine zweite Obduktion beantragen, von einem unabhängigen Gerichtsmediziner.«
Sie ließ kraftlos den Arm fallen. »Das bringt mir Vito nicht zurück. Seine Verwandtschaft ist im Anmarsch. Eine zweite Obduktion, da wird die Leiche nie freigegeben werden.«
»Bitte, tun Sie es.«
Sie schlug die Augen auf. Ihre Pupillen strahlten grün in einem Geflecht winziger roter Äderchen. Plötzlich fing sie zu weinen an. Die Tränen zogen eine Spur und rannen in kurzem Abstand über ihre Wangen. Lunau war so hilflos, er hätte am liebsten mit der Faust in den Glastisch geschlagen.
»Ich muss jetzt gehen.«
Sie nickte, und dann fing sie zu
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