Acqua Mortale
gefunden worden. Wenn Sie widerrufen, können Sie morgen Abend vielleicht schon wieder zu Hause schlafen.«
Pirri schlug sich mit den Fäusten gegen die Stirn. Sobald er rauskam, würden sie kommen und ihn holen. Aber auch hier drinnen war alles eine Frage der Zeit. Sie würden es schaffen, in seine Zelle einzudringen. Und wenn sie nicht in die Zelle kamen, dann warteten sie ab, bis er verlegt wurde, bis er das erste Mal in den Speisesaal kam, auf den Hof oder unter die Gemeinschaftsduschen. Er hatte kein Recht auf besondere Schutzhaft, das hatte sein Anwalt ihm schon gesagt. Wenn er rauskam, war er sofort geliefert. Hier im Knast blieb ihm noch ein bisschen Zeit. Er musste wieder zu Kräften kommen, das war das Entscheidende. Aber dazu musste er schlafen.
»Die Packung«, sagte er.
»Damit könnten Sie Dummheiten machen.«
»Dann wenigstens noch eine Tablette.«
Der Anwalt legte eine weitere Pille auf die Tischplatte, deckte sie aber mit der Hand ab.
»Hätten Sie ein anderes Motiv gehabt, Di Natale zu töten, außer dem Geld? Was haben Sie mit diesem deutschen Journalisten zu schaffen? Kennen Sie ein Mädchen namens Amanda Schiavon?«
Pirri schlug auf die Hand des Anwalts. »Zuerst die Pille.«
»Zuerst antworten Sie.«
Pirri schüttelte den Kopf. Der Anwalt zog die Hand zurück, Pirri steckte sich die Tablette in den Mund und zerkaute sie. Seine Zunge stocherte in den bitteren Bröseln herum, er schluckte und musste husten.
»Sie sind mir eine Antwort schuldig.«
Pirri spürte endlich die bleierne Müdigkeit und legte den Kopf auf der Tischplatte ab.
48
Lunau schloss die Augen und genoss die Vielzahl an Minimalgeräuschen, die man oberflächlich als Stille wahrnahm. Das gedämpfte Gurren einer Turteltaube, das durchs Dach drang, ein Winkelschleifer, der irgendwo in der Nachbarschaft sang, ab und zu knackten die Holzbalken unter dem Cotto-Boden. Silvia klapperte unten in der Küche, dann summte leise ein Pürierstab.
Von Vito Di Natales Arbeitszimmer ging eine besondere Aura aus, obwohl nichts Besonderes zu entdecken war. Eine Dachgaube mit einem Fenster, an dem der Schreibtisch stand, an die Schräge waren ein paar Bauskizzen gepinnt, die Seitenwände waren mit Bücherregalen bedeckt. Dort standen Grundlagenwerke zur Flussregulierung und zu Ingenieurwissenschaften, ein paar Jahrbücher der Schifffahrtsbehörde, Aktenordner und Notizbücher. Die Rückwand war frei. Lunau lehnte sich in dem bequemen Bürosessel zurück, ließ sich um die eigene Achse kreisen und schloss wieder die Augen. Die Stille hört man erst, wenn in der Ferne ein Hund bellt, dachte er. Es gab in dem Raum keine persönlichen Fotos, weder eine Spur der Kinder noch der Frau oder von Freunden. Alles war nur auf die Arbeit konzentriert.
Bis auf eine einzige Ausnahme: Die Bauskizzen an der Dachschräge. Lunau betrachtete sie eingehend und merkte, dass sie nichts mit der ARNI zu tun hatten. Es waren die Skizzen für das Schiffsmodell, das Vito seinen Kindern aus Holz gebaut hatte. Immer wenn Lunau meinte, er habe ein kohärentes Bild von diesemDi Natale, tauchte eine andere Facette auf. Wie die im Gesicht seiner Frau.
Vito Di Natale, emigrierter Sizilianer, vorbildlicher Familienvater, passionierter Wasserbauingenieur mit einer fast archaischen Liebe zum Po. Ein durch und durch integrer Mensch. Oder ein genialer Blender?
Lunau stand auf, photographierte den Schreibtisch und alle Wände ab, dann begann er mit der eigentlichen Arbeit. Di Natale hatte akribisch ein zweites Büro angelegt. Sämtliche Akten der ARNI waren fotokopiert und abgeheftet, damit Vito jederzeit zu Hause weiterarbeiten konnte. Lunau fraß sich chronologisch rückwärts durch die Aufzeichnungen, legte die Notizbücher und die Steuerunterlagen dazu und versuchte, sich einen Überblick über die Vorgänge zu verschaffen. Besonderes Interesse hatte er natürlich an allem, was Konfliktstoff barg : die Ausschreibung großer Bauprojekte, Vertragskündigungen oder -strafen, Zivil- oder gar Strafprozesse. Auf allen wichtigen Dokumenten war auch Alberto Gasparottos Unterschrift, doch anhand der Notizbücher wurde klar, dass Di Natale das eigentliche Hirn der ARNI war. Er führte die Verhandlungen, trieb die Projekte voran. Erst wenn Verträge unterschriftsreif waren, wurden sie Gasparotto vorgelegt, der sie dann nur noch signierte. Aktuell baute eine Firma aus Treviso eine neue Brücke in Küstennähe, ein Auftrag über 1,3 Million Euro, von denen ein Drittel aus EU-Geldern
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