Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
sprechen.«
»Nicht darüber reden zu können, wäre noch schmerzlicher. Bitte, Mr. Dalgliesh, sagen Sie mir die Wahrheit – glauben Sie, daß Gerard ermordet wurde?«
»Mit Sicherheit kann ich dazu noch nichts sagen, aber es deutet doch vieles darauf hin. Darum muß ich Sie auch jetzt gleich mit meinen Fragen behelligen. Ich möchte, daß Sie mir ganz genau schildern, was sich gestern abend hier zugetragen hat.«
»Ich nehme an, Gabriel – Mr. Dauntsey – hat Ihnen schon erzählt, daß er Opfer eines Raubüberfalls wurde. Ich habe ihn nicht zu seiner Lesung begleitet, weil er so hartnäckig darauf bestand, allein zu gehen. Ich glaube, er hatte Angst, es würde mir nicht gefallen. Aber es war seine erste Lesung seit ungefähr fünfzehn Jahren, und da war es nicht recht, ihn so ganz sich selbst zu überlassen. Wenn ich dabeigewesen wäre, hätte man ihn vielleicht nicht überfallen. Jedenfalls wurde ich gegen halb zwölf vom St.-Thomas-Krankenhaus angerufen und erfuhr, daß er dort auf der Unfallstation sei und noch auf eine Röntgenaufnahme warten müsse. Die Schwester wollte wissen, ob ich mich um ihn kümmern würde, wenn man ihn nach Hause entließe. Offenbar bestand er darauf, heimzukommen, und das Krankenhaus wollte sich nun vergewissern, daß er nicht ohne Betreuung sein würde. Ich habe dann am Küchenfenster nach ihm Ausschau gehalten, das Taxi aber leider überhört. Gabriels Eingang befindet sich an der Innocent Lane, doch der Fahrer wird wohl schon unten an der Ecke gewendet und ihn dort abgesetzt haben. Sowie er im Haus war, hat Gabriel mich dann angerufen. Er versicherte mir, es ginge ihm gut, er habe sich nichts gebrochen und wolle jetzt erst einmal ein Bad nehmen. Danach würde er sich freuen, wenn ich noch auf einen Sprung hinunterkäme. Ich glaube zwar nicht, daß er wirklich noch Lust auf meinen Besuch hatte, aber er wußte eben, daß ich keine Ruhe finden würde, wenn ich mich nicht mit eigenen Augen davon überzeugt hätte, daß mit ihm alles in Ordnung war.«
»Sie haben demnach wohl keinen Schlüssel zu seiner Wohnung?« fragte Dalgliesh. »Ich meine, Sie hätten nicht gleich unten auf ihn warten können?«
»Doch, doch, ich habe einen Schlüssel, und er hat umgekehrt auch einen zu meiner Wohnung. Reine Vorsichtsmaßnahme, für den Fall, daß es mal brennt oder eine Überschwemmung gibt, während einer von uns nicht da ist. Aber ich würde diesen Schlüssel niemals benutzen, ohne daß Gabriel mich ausdrücklich darum gebeten hätte.«
»Und wie lange hat es gedauert, bis Sie dann gestern nacht zu ihm hinuntergegangen sind?«
Die Antwort war natürlich von allergrößter Wichtigkeit. Gabriel Dauntsey hätte die Möglichkeit gehabt, Etienne zu töten, bevor er um Viertel vor acht zu seiner Lesung aufbrach. Das Timing wäre zwar äußerst knapp gewesen, aber er hätte es schaffen können. Allerdings hätte sich ihm dann wohl erst nach ein Uhr morgens die Chance geboten, zum Tatort zurückzukehren und die Spuren zu verwischen.
»Wie lange«, fragte Dalgliesh noch einmal, »wie lange hat es gedauert, bis Mr. Dauntsey zum zweiten Mal anrief und sie hinunterbat? Können Sie sich daran noch halbwegs genau erinnern?«
»Lange kann es nicht gewesen sein. Ich nehme an, acht oder zehn Minuten, vielleicht auch weniger. Oder doch, acht Minuten würde ich sagen, gerade so lange, wie er eben für ein kurzes Bad brauchte. Sein Badezimmer liegt gleich unter dem meinen. Ich höre oben zwar nicht, wenn er sich ein Bad einläßt, aber wenn das Wasser abläuft, das hört man. Gestern habe ich natürlich darauf gewartet.«
»Und es hat ungefähr acht Minuten gedauert, bevor Sie das Wasser ablaufen hörten?«
»Na ja, ich habe nicht nach der Uhr gesehen. Dazu bestand ja auch gar kein Grund. Aber ich bin sicher, daß es nicht übermäßig lange gedauert hat.« Und als wäre ihr der Gedanke erst ganz plötzlich gekommen, rief sie aufgebracht: »Aber Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, daß Sie Gabriel verdächtigen? Sie denken doch nicht etwa, er hat sich heimlich nach Innocent House zurückgeschlichen und Gerard umgebracht?«
»Mr. Etienne ist schon lange vor Mitternacht gestorben. Was wir jetzt untersuchen, ist die Frage, ob dem Toten die Schlange vielleicht erst nachträglich um den Hals gelegt wurde.«
»Aber das würde ja bedeuten, daß jemand extra deswegen ins kleine Archiv raufgegangen ist, jemand, der wußte, daß Gerard tot ist und dort oben liegt. Das kann aber nur einer gewußt haben
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