Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
es dauert, von Dauntseys Eingang an der Innocent Lane bis rauf ins kleine Archiv zu gelangen, dort alles Nötige zu erledigen und wieder zurückzukommen.«
»Über die Treppe oder mit dem Aufzug?«
»Stoppen Sie beides. Bei diesem Aufzug geht es womöglich zu Fuß schneller.«
Während sie ihre Unterlagen zusammensuchten, war Kate in Gedanken noch bei Frances Peverell. Dalgliesh war sehr behutsam mit ihr umgegangen, aber wann wäre er bei einem Verhör schon einmal grob geworden? Seine Bemerkung über den Umgang mit den Kleidern der Verstorbenen war gewiß spontan gewesen, und doch hatte sie ihm sehr geholfen, Frances Peverells Vertrauen zu gewinnen. Wahrscheinlich tat die junge Frau ihm leid, vielleicht war sie ihm sogar ganz sympathisch; aber niemals würden ihn persönliche Gefühle in einer Vernehmung beeinflussen. Und was ist mit mir? fragte Kate sich nicht zum erstenmal. Würde er nicht in allem, was mit seinem Beruf zusammenhing, die gleiche Distanz und Härte an den Tag legen? Er respektiert mich, dachte sie, er ist froh, mich in seinem Team zu haben, er vertraut mir, und manchmal kann ich mir sogar vorstellen, daß er mich mag. Aber gesetzt den Fall, ich würde im Dienst einmal wirklich übel versagen – wie lange könnte ich mich bei der Met dann wohl noch halten?
»Ich muß jetzt noch mal für ein paar Stunden zurück ins Yard«, sagte Dalgliesh. »Wir treffen uns dann im Leichenschauhaus, aber ich werde vielleicht nicht bis zum Ende der Obduktion bleiben können. Ich hab’ um acht einen Termin mit dem Commissioner und dem Innenminister. Ich weiß noch nicht, wann ich mich da loseisen kann, aber ich komme hinterher auf jeden Fall gleich nach Wapping, und dann machen wir Lagebesprechung, Sie, Daniel und ich.«
Es würde eine lange Nacht werden.
29
Es war zwei Minuten vor drei, und Blackie saß allein in ihrem Büro. Sie fühlte sich niedergedrückt und lustlos, was teils einer verzögerten Schockreaktion, teils ihrer Angst zuzuschreiben war und jedenfalls dazu führte, daß ihr jeder Handgriff zur schier unerträglichen Anstrengung geriet. Sie hätte vermutlich einfach heimgehen können, auch wenn ihr das niemand ausdrücklich gesagt hatte. Sie mußte zwar noch die Ablage machen und hatte auch etliche Briefe zu tippen, die Gerard Etienne ihr diktiert hatte, aber es schien beinahe ebenso anstößig wie sinnlos, Papiere abzuheften, nach denen er nun nie mehr fragen würde, und Briefe zu tippen, die er nicht mehr unterschreiben konnte. Mandy war vor einer halben Stunde gegangen; wahrscheinlich hatte man ihr gesagt, sie würde vorläufig nicht mehr gebraucht. Blackie hatte zugesehen, wie sie ihren roten Sturzhelm aus der untersten Schreibtischschublade geholt und den Reißverschluß ihrer hautengen Lederjacke zugezogen hatte. Mit diesem leuchtenden Monstrum auf dem Kopf hatte sich das magere Gestell samt seinen langen Beinen in den schwarzen gerippten Leggings schlagartig in die Karikatur eines exotischen Insekts verwandelt.
Ehe sie ging, hatte Mandy, eine Spur Verlegenheit und Mitgefühl in der Stimme, zu Blackie gesagt: »Hören Sie, daß Sie wegen dem bloß keine schlaflosen Nächte kriegen. Das passiert nicht mal mir, und ich hab’ ihn, soweit ich ihn kannte, ganz gern gemocht. Aber zu Ihnen hat er sich doch hundsgemein benommen. Werden Sie auch allein zurechtkommen, ich meine auf dem Heimweg?«
Und sie hatte geantwortet: »Ja, ja, danke, Mandy. Es ist schon wieder alles in Ordnung. Das war eben nur der Schock. Immerhin war ich ja seine Privatsekretärin. Sie dagegen haben ihn nur ein paar Wochen als Aushilfsschreibkraft gekannt.«
Diese Worte, eigentlich nur ein ungeschickter Versuch, verlorene Würde wiederherzustellen, klangen selbst in Blackies Ohren dünkelhaft und gespreizt. Mandy hatte daraufhin nur die Achseln gezuckt und war ohne ein weiteres Wort gegangen. Kurz darauf hörte man, wie sie sich draußen in der Halle laut und munter von Mrs. Demery verabschiedete.
Mandy war nach ihrem Gespräch mit der Polizei spürbar aufgekratzt gewesen und hatte sich gleich in die Küche verkrümelt, um Mrs. Demery, George und Amy Bericht zu erstatten. Blackie hätte sich gern dazugesellt, fürchtete aber, daß es sich in ihrer Stellung nicht schickte, mit den kleinen Angestellten zu tratschen. Und sie wußte auch, daß es den vieren nicht recht gewesen wäre, wenn sie sie bei ihren Vertraulichkeiten und Spekulationen störte. Andererseits hatte man sie, Blackie, auch nicht dazugebeten, als die
Weitere Kostenlose Bücher