Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
hatte.
»Vermutlich hätten Sie statt mir jetzt Frances drannehmen wollen«, sagte James. »Tut mir leid, aber meine Organisation daheim ist vorübergehend völlig über den Haufen geworfen, und wenn ich um halb fünf nicht zu Hause bin, wäre mein kranker Freund, Rupert Farlow, ganz allein. Rupert ist übrigens mein Alibi. Ich nehme doch an, es ist der Hauptzweck dieses Gesprächs, mein Alibi zu ermitteln. Also bitte: Ich bin gestern um halb sechs mit der Fähre heimgefahren und war gegen halb sieben in Hillgate Village. Ach ja, von Charing Cross bis Notting Hill Gate habe ich die U-Bahn genommen, die Circle Line. Rupert kann bezeugen, daß ich den ganzen Abend mit ihm zu Hause verbracht habe. Besuch hatten wir keinen, und ungewöhnlicherweise hat uns auch niemand angerufen. Ach, es wäre übrigens sehr nett, wenn Sie sich vorher anmelden könnten, ehe Sie zu ihm gehen. Er ist schwer krank, und sein Zustand wechselt von Tag zu Tag.«
Dalgliesh stellte auch de Witt die Frage, ob er von jemandem wisse, der Gerard vielleicht nach dem Leben getrachtet hatte. »Hatte er, den Begriff jetzt mal im weitesten Sinne gefaßt, vielleicht politische Feinde?«
»Du meine Güte, wo denken Sie hin! Gerard war ein Liberaler vom Scheitel bis zur Sohle, jedenfalls seinen Reden nach. Aber die zählen ja nun mal mehr als Taten. Und was political correctness angeht, so hatte er die ganze liberale Tonleiter drauf, ja, Gerard wußte genau, was man heutzutage in Großbritannien nicht sagen oder veröffentlichen darf, und er hat sich penibel dran gehalten. Er mag sich sein Teil gedacht haben, wie wir anderen auch, aber noch ist das ja wohl kein Verbrechen. Ich bezweifle übrigens, daß er sich sehr für politische oder soziale Belange interessiert hat, nicht einmal dann, wenn sie die Zukunft des Verlagswesens tangierten. Er schützte Engagement vor, wann immer das zweckdienlich war, aber es sollte mich wundern, wenn’s ihm je ernst gewesen wäre damit.«
»Und was hat ihn berührt? Was lag ihm wirklich am Herzen?«
»Ruhm. Erfolg. Die eigene Person. Peverell Press. Er wollte einen der größten – den größten – und erfolgreichsten Privatverlag Englands leiten. Dann die Musik, allen voran Beethoven und Wagner. Er spielte selber recht gut Klavier. Schade, daß er im Umgang mit Menschen nicht auch so ein feines Gespür hatte. Und vermutlich ist ihm auch seine gegenwärtige Partnerin wichtig gewesen.«
»Er war verlobt, nicht wahr?«
»Mit der Schwester des Earls von Norrington. Claudia hat mit ihrer Mutter telefoniert, und die dürfte ihre Tochter inzwischen unterrichtet haben.«
»Und mit der Verlobung gab’s keine Probleme?«
»Nicht daß ich wüßte. Claudia ist da vielleicht besser informiert, aber ich glaub’s eigentlich nicht. Gerard war in bezug auf Lady Lucinda nicht sehr gesprächig. Natürlich haben wir sie alle kennengelernt. Gerard gab am 10. Juli eine Party für sie, bei der außer der Verlobung auch ihr Geburtstag gefeiert wurde. Zugleich war das übrigens so eine Art Ersatz für unser traditionelles Sommerfest hier in Innocent House. Ich glaube, Gerard hat sie letztes Jahr in Bayreuth kennengelernt, aber nach meinem Eindruck – ich könnte mich natürlich täuschen – war sie nicht um Wagners willen dort. Sie und ihre Mutter besuchten wohl entfernte Verwandte auf dem Kontinent. Sonst weiß ich eigentlich so gut wie nichts über sie. Die Verlobung kam für uns natürlich überraschend. Gesellschaftliche Ambitionen, falls die denn den Ausschlag gegeben haben, war man bei Gerard nicht gewöhnt. Und finanziell hätte diese Heirat dem Verlag garantiert nichts eingebracht. Lady Lucinda hat zwar einen beachtlichen Stammbaum, aber den kann man nun mal nicht versilbern. Allerdings muß man berücksichtigen, daß in diesen Kreisen schon über Armut geklagt wird, wenn jemand eigentlich nur vorübergehend Schwierigkeiten damit hat, das Schulgeld für den Nachwuchs in Eton lockerzumachen. Aber wie dem auch sei, Lady Lucinda hat Gerard sicher viel bedeutet. Und dann wäre da noch das Bergsteigen. Wenn Sie Gerard nach seinen Interessen gefragt hätten, dann wäre das vermutlich auch zur Sprache gekommen. Soviel ich weiß, hat er allerdings in seinem Leben bloß einen einzigen Berg bezwungen.«
Kate verblüffte ihn mit der Frage: »Und welchen?«
De Witt wandte sich ihr lächelnd zu. Ein Lächeln, das ganz überraschend kam und sein Gesicht verwandelte. »Das Matterhorn. Ich denke, das erklärt so ziemlich alles, was Sie
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