Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
wußte, daß er entlassen werden sollte, verstehst du. Ich habe ja selber den Brief getippt, den Mr. Gerard an dieses Headhunter-Büro geschrieben hat. Natürlich konnte ich Sydney nicht direkt sagen, was im Busch war. Ich habe meine Vertrauensstellung als Privatsekretärin immer hochgehalten, aber ich hätte es auch nicht recht gefunden, ihn nicht zu warnen. Der Mann ist doch erst seit gut einem Jahr verheiratet, und jetzt haben sie auch noch was Kleines, ein Mädchen. Dabei ist er schon über fünfzig. Bestimmt, jünger kann er nicht sein. Da findet man nicht mehr so leicht eine neue Stelle. Also hab’ ich eine Kopie von dem Brief auf meinen Schreibtisch gelegt, kurz bevor er mit Mr. Gerard den Termin wegen der Kostenvoranschläge hatte. Mr. Gerard hat den armen Sydney ja immer warten lassen. Und als er diesmal wieder ganz zappelig in meinem Büro hockte, bin ich halt kurz rausgegangen, damit er seine Chance kriegte. Hinterher war ich mir sicher, daß er den Wisch gelesen hatte. Es ist einfach menschlich, daß man einen Blick auf einen Brief wirft, der einem direkt vor der Nase liegt, gewissermaßen ein Reflex, verstehst du?«
Das Dumme war bloß, daß Blackie diesen Schritt, der ihr so wesensfremd war und gar nicht zu ihr passen wollte, keineswegs aus Mitleid getan hatte. Das wußte sie jetzt und wunderte sich direkt, warum es ihr nicht schon früher aufgegangen war. Sie hatte sich und Sydney Bartrum als Leidensgenossen gesehen; beide waren sie Opfer von Mr. Gerards kaum verhüllter Verachtung. Mit dieser Briefgeschichte hatte sie sich das erstemal ein kleines bißchen zur Wehr gesetzt. War es diese Trotzhaltung, die ihr den Mut zu der späteren und, ach, so ungleich verhängnisvolleren Rebellion eingegeben hatte?
»Aber hat er ihn denn nun tatsächlich gelesen?« wollte Joan wissen.
»Das muß er wohl. Er hat mich zwar nicht verraten – jedenfalls hat Mr. Gerard die Sache nie erwähnt oder mich wegen meiner Nachlässigkeit gerügt. Aber gleich am nächsten Tag hat Sydney sich wieder einen Termin bei ihm geben lassen, und ich glaube, er hat ihn rundheraus gefragt, ob seine Stelle gefährdet ist. Ich konnte sie zwar nicht reden hören, aber er war nicht lange drin, und als er wieder rauskam, da hat er geweint. Stell dir das nur mal vor, Joan, ein erwachsener Mann und weint.« Sie schluckte und setzte dann hinzu: »Darum hab’ ich’s der Polizei nicht gesagt.«
»Was? Daß er geweint hat?«
»Aber nein, das mit dem Brief. Ich hab’ ihnen die ganze Geschichte unterschlagen.«
»Und ist das alles, was du ihnen verschwiegen hast?«
»Ja«, log Blackie, »das ist alles.«
»Ich denke, das hast du ganz richtig gemacht.« Vom Whisky beflügelt, schwang Mrs. Willoughby sich ohne Bedenken zum Richter auf. »Warum Informationen anbieten, die vielleicht gar nicht relevant oder sogar irreführend sind? Was anderes wär’s, wenn sie dich gradeheraus fragen, dann müßtest du natürlich die Wahrheit sagen.«
»So seh’ ich das auch, ja. Und außerdem steht ja noch gar nicht fest, daß es Mord war. Ich meine, er könnte auch eines natürlichen Todes gestorben sein, an einem Herzanfall beispielsweise, und hinterher hat ihm dann jemand Hissing Sid um den Hals gelegt. Die meisten stellen es sich anscheinend ohnehin so vor. Es würde auch genau zu diesem Unhold passen, der uns im Verlag dauernd so dumme Streiche spielt.«
Leider war Mrs. Willoughby für diese willkommene Theorie nicht zu haben. »Nein, nein, ich denke, wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß es Mord war. Was immer man auch nachträglich mit der Leiche angestellt hat, ihr hättet die Polizei nicht so lange im Haus gehabt und vor allem nicht in so hochkarätiger Besetzung, wenn da noch ernsthafte Zweifel bestünden. Dieser Commander Dalgliesh, von dem hab’ ich schon gehört. Ein so hohes Tier hätten sie euch nicht geschickt, wenn sie an einen natürlichen Tod glauben würden. Du sagst ja, es war Lord Stilgoe, der New Scotland Yard angerufen hat. Vielleicht hat das bei der Polizei den Ausschlag gegeben. So ein Titel ist bei den richtigen Stellen immer noch was wert. Natürlich kommt auch Selbstmord in Frage oder meinetwegen ein Unfall, aber nach dem, was du mir erzählt hast, halte ich beides nicht für wahrscheinlich. Nein, nein, wenn du mich fragst, war es Mord, und ich wette, der Mörder war jemand aus dem Verlag.«
»Aber nicht Sydney«, widersprach Blackie. »Sydney Bartrum könnte keiner Fliege was zuleide
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