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Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Titel: Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Demery als widerwilliger Eskorte, die Blackie wie ein straffälliges Kind behandeln würde oder wie eine Gefangene, die unter Beobachtung steht. Joan würde sich womöglich auch noch verpflichtet fühlen, Mrs. Demery Tee anzubieten. Blackie stellte sich vor, wie sie zu dritt im Wohnzimmer sitzen würden und Mrs. Demery die Ereignisse des Tages blumig ausgeschmückt zum besten gab. Sie würde abwechselnd geschwätzig und ordinär und dann wieder fürsorglich und beflissen sein und auf jeden Fall ein unwahrscheinliches Sitzfleisch entwickeln.
    Blackie sagte: »Mir fehlt überhaupt nichts, vielen Dank, Miss Claudia. Verzeihen Sie, daß ich mich so habe gehenlassen. Der Schock, wissen Sie…«
    »Es war für uns alle ein Schock.«
    Miss Claudias Stimme klang tonlos. Vielleicht waren ihre Worte nicht als Vorwurf gemeint, sondern klangen nur so. Sie zögerte, als gäbe es noch etwas, das sie ihr mitzuteilen habe oder das zu sagen sie sich vielleicht auch verpflichtet fühlte. Nach einer kleinen Pause erklärte sie: »Bleiben Sie am Montag ruhig zu Hause, wenn Sie sich dann immer noch angegriffen fühlen. Sie brauchen wirklich nicht extra reinzukommen. Und falls die Polizei Sie noch einmal sprechen möchte, so wissen die ja, wo Sie zu finden sind.« Und damit ging sie hinaus.
    Seit der Entdeckung der Leiche war das ihre erste Begegnung unter vier Augen gewesen, und jetzt wünschte Blackie, daß ihr irgend etwas eingefallen wäre, irgendein Wort des Trostes. Aber was hätte sie schon sagen können, wenn sie dabei ehrlich und aufrichtig bleiben wollte? »Ich habe ihn nie gemocht und er mich auch nicht, aber es tut mir leid, daß er tot ist.« Und war selbst das die Wahrheit?
    In Charing Cross war Blackie es gewohnt, von dem zielstrebigen, energischen Strom des Pendlerverkehrs zur Rush-hour aufgesogen zu werden. Auf einmal mitten am Nachmittag in der für einen Freitag erstaunlich ruhigen Bahnhofshalle zu stehen war ein merkwürdiges Gefühl. Angesichts dieser gedämpften Geschäftigkeit schien die Zeit auf einmal gar keine Rolle mehr zu spielen. Ein älteres Ehepaar, das sich für die Reise viel zu feingemacht hatte (die Frau trug offenbar ihren besten Sonntagsstaat), ließ die Blicke nervös über die Abfahrtstafel wandern. Der Mann zerrte einen großen Koffer hinter sich her, der auf Rollen lief und mit etlichen Gurten verschnürt war. Auf einen Wink der Frau hin rückte er näher, und prompt kippte der Koffer um. Blackie sah einen Moment lang zu, wie sie sich vergebens bemühten, ihn wieder aufzurichten, dann kam sie ihnen zu Hilfe. Aber noch als sie sich mit dem sperrigen, toplastigen Gepäckstück herumplagte, spürte sie den ängstlichen und mißtrauischen Blick der Alten auf sich gerichtet, so als fürchteten sie, Blackie könnte es auf ihre Unterwäsche abgesehen haben. Als der Koffer glücklich wieder aufgerichtet war, dankten die beiden ihr hastig und zogen ab. Den Koffer schoben sie jetzt zwischen sich und tätschelten ihn von Zeit zu Zeit wie einen ungebärdigen Hund, den es zu beschwichtigen gilt.
    Nach der Anzeigentafel hatte Blackie noch eine halbe Stunde Zeit, gerade genug, um in Ruhe einen Kaffee zu trinken. Während sie das vertraute Aroma einatmete und sich die Hände an der Tasse wärmte, kam ihr der Gedanke, daß diese unerwartet frühe Heimfahrt normalerweise ein kleiner Luxus gewesen wäre. Dann hätte die ungewohnte Leere des Bahnhofs sie freilich auch nicht an die Unannehmlichkeiten der Rush-hour erinnert, sondern an die Ferien ihrer Kindheit, als man immer die Muße hatte, im Bahnhofsrestaurant noch etwas zu trinken, und trotzdem sicher sein durfte, vor Dunkelwerden daheim zu sein. Jetzt aber war alle Freude von der schrecklichen Erinnerung überschattet, von dieser quälend hartnäckigen Mischung aus Furcht und Schuld. Blackie fragte sich ernsthaft, ob sie dieses Gefühl je wieder loswerden würde. Aber wenigstens war sie auf dem Weg nach Hause. Sie hatte sich noch nicht entschieden, wieviel sie ihrer Cousine anvertrauen würde. Es gab Dinge, die konnte und durfte sie ihr nicht erzählen, aber sie würde sich immerhin auf Joans beruhigend praktische Vernunft verlassen können und auf den vertrauten, geordneten Frieden in Weaver’s Cottage.
    Der Zug, der halb leer war, fuhr pünktlich ab, doch später konnte sie sich weder an die Fahrt erinnern noch daran, wie sie auf dem Parkplatz in East Marling ihren Wagen aufgeschlossen hatte oder wie sie von dort nach West Marling und zum Cottage gekommen war.

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