Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
Etiennes Vater. Claudia Etienne ist heute abend nach Bradwell-on-Sea rausgefahren, um dem alten Herrn schonend beizubringen, was geschehen ist. Und sie wird ihn auch bitten, mich zu empfangen. Aber sie bleibt nicht über Nacht draußen. Ich habe sie gebeten, sich morgen mit Ihnen in Etiennes Wohnung im Barbican zu treffen. Absoluten Vorrang hat allerdings erst mal die Überprüfung der Alibis, angefangen bei den Gesellschaftern und den Mitarbeitern in Innocent House. Sie, Daniel, sollten mit Robbins zu Esme Carling fahren. Kriegen Sie raus, wo die Dame hin ist, nachdem ihre Signierstunde bei Better Books in Cambridge geplatzt war. Dann wäre da noch Gerard Etiennes Verlobungsfeier am 10. Juli. Wir müssen die Gästeliste überprüfen und gegebenenfalls einige Leute verhören. Aber taktvoll, versteht sich. Erkundigen Sie sich unauffällig, ob die Gäste im Haus herumgewandert sind und ob sie irgend etwas Merkwürdiges oder Verdächtiges entdeckt haben. Doch in erster Linie konzentrieren wir uns auf die Gesellschafter. Hat irgendwer Claudia Etienne und ihren Begleiter auf der Themse gesehen, und wenn ja, um welche Zeit? Dann fragen Sie im St.-Thomas-Krankenhaus nach, wann Gabriel Dauntsey eingeliefert wurde, und überprüfen Sie natürlich auch sein Alibi. Ich werde morgen schon sehr zeitig nach Bradwell-on-Sea aufbrechen und hoffe, am frühen Nachmittag zurück zu sein. So, das war’s, denke ich. Schluß für heute.«
35
Die Gesellschafter verbrachten den Freitagabend getrennt. Während Frances am Küchentisch stand und lustlos überlegte, was sie essen solle, dachte sie darüber nach und kam zu dem Schluß, daß das eigentlich gar nicht verwunderlich war. Außerhalb von Innocent House gingen sie nun einmal getrennte Wege, ja manchmal kam es ihr so vor, als legten sie es bewußt darauf an, sich außerhalb des Verlags voneinander zu distanzieren, wie um zu beweisen, daß alles, was sie gemeinsam hatten, die Arbeit war. Über ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen sprachen sie nur selten miteinander, und gelegentlich passierte es ihr, daß sie auf der Party eines anderen Verlegers eingeladen war und plötzlich Claudias gepflegten Kopf zwischen lauter schrill zurechtgemachten Gesichtern entdeckte, oder daß sie mit einer Freundin aus der Klosterschule ins Theater ging und Dauntsey sah, der sich eine Reihe vor ihnen langsam zu seinem Platz durchquälte. Und dann grüßten sie einander so höflich wie flüchtige Bekannte. Doch was die vier verbliebenen Gesellschafter heute abend voneinander fernhielt, das war stärker als die Gewohnheit und hing damit zusammen, daß es ihnen schon im Lauf des Tages zunehmend widerstrebt hatte, über Gerards Tod zu sprechen, und daß die Offenheit jener Stunde, die sie zusammen im Sitzungszimmer verbracht hatten, einem bohrenden Argwohn gegen weitere Vertraulichkeiten gewichen war.
James, das wußte sie, hatte gar keine andere Wahl. Er mußte nach Hause zu Rupert, und dies eine Mal beneidete sie ihn um seine unaufschiebbare Verpflichtung. Sie hatte seinen Freund nie kennengelernt, war seit Ruperts Einzug nie mehr zu ihm nach Hause eingeladen worden, und jetzt auf einmal überlegte sie, was für ein Leben die beiden wohl miteinander führen mochten. Aber wenigstens würde James jemanden haben, mit dem er die Leiden des Tages teilen konnte, eines Tages, der ihr jetzt ungeheuer lang erschien. In stillschweigendem Einverständnis hatten alle vier Innocent House frühzeitig verlassen, aber sie hatte noch einen Moment lang gewartet, während Claudia die Tür abschloß und die Alarmanlage einschaltete. »Kommst du auch zurecht, Claudia?« hatte sie gefragt und noch beim Sprechen gemerkt, wie banal und sinnlos ihre Worte klangen. Sie hatte überlegt, ob sie Claudia ihre Begleitung anbieten solle, fürchtete aber, das könne wie ein Eingeständnis der eigenen Schwäche und ihrer Sehnsucht nach Gesellschaft wirken. Und Claudia hatte ja schließlich ihren Verlobten – falls er ihr Verlobter war. So oder so würde sie sich eher an ihn wenden als an Frances.
Claudia hatte geantwortet: »Im Moment möchte ich nichts weiter als mich zu Hause einigeln und keinen Menschen sehen.« Doch dann hatte sie hinzugefügt: »Und was ist mit dir, Frances? Wirst du denn zurechtkommen?«
Die gleiche bedeutungslose, nicht zu beantwortende Frage. Wie hätte Claudia wohl reagiert, wenn sie gesagt hätte: »Nein, werd’ ich nicht. Ich möchte jetzt nicht allein sein. Bleib doch heute nacht bei mir, Claudia. Schlaf
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