Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
Bewußtsein kam auch die Erleichterung, aber das Grauen des Alptraums blieb wie ein Schatten auf ihrer Seele.
Doch wenigstens wußte sie jetzt, daß es ein Traum war. Sie ging zurück zum Bett und knipste die Lampe an. Es war kurz vor fünf. Sinnlos, sich jetzt noch hinzulegen; sie würde doch keinen Schlaf mehr finden. Also schlüpfte sie in ihren Morgenrock, zog die Vorhänge auf und öffnete die Fenster. Aus dem Dunkel des Zimmers heraus konnte sie den leuchtenden Schimmer des Flußbetts erkennen und hoch droben ein paar vereinzelte Sterne. Das Grauen ihres Traums wich allmählich, aber an seine Stelle trat nur jenes andere Grauen, aus dem es kein Erwachen gab.
Plötzlich fiel ihr Adam Dalgliesh ein. Auch seine Wohnung lag an der Themse, in Queenhithe. Sie fragte sich, woher sie das wußte, und dann erinnerte sie sich an die Feuilletonberichte über seinen erfolgreichen letzten Gedichtband. Dalgliesh war sehr verschlossen, was sein Privatleben anging, aber daß er an der Themse wohnte, war immerhin durchgesickert. Wie merkwürdig, daß ihrer beider Leben durch diesen dunklen, geschichtsträchtigen Strom verbunden war. Ob auch er nicht schlafen konnte? Stand womöglich ein, zwei Meilen themseaufwärts seine hohe, dunkle Gestalt an irgendeinem Fenster, und er sah hinaus auf den gleichen gefährlichen Fluß?
DRITTES BUCH
DIE UHR TICKT
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Am Samstag, dem 16. Oktober, machte Jean-Philippe Etienne um neun Uhr wie gewohnt seinen Morgenspaziergang. Sowohl Zeit wie Wegstrecke waren immer gleich und richteten sich weder nach Jahreszeit noch Witterung. Er folgte dem schmalen, felsigen Hügelkamm zwischen Sumpf und Ackerland, auf dem nach der Überlieferung einst die römische Festung Othona gestanden hatte, vorbei an der anglokeltischen Kapelle Peter-on-the-Wall und weiter um die Landspitze bis hin zur Blackwater-Mündung. Er begegnete nur selten jemandem auf seiner morgendlichen Promenade, nicht einmal im Sommer, wenn es immerhin vorkommen konnte, daß ein Vogelkundler oder ein Tourist, der die Kapelle besichtigen wollte, auch schon zeitig unterwegs war. Traf es sich aber doch einmal, dann wünschte er höflich einen guten Morgen, ließ sich jedoch ansonsten auf kein Gespräch ein. Die Einheimischen wußten, daß er um der Abgeschiedenheit willen nach Othona House gekommen war, und respektierten seinen Wunsch nach Einsamkeit. Etienne nahm keine Telefonanrufe entgegen und empfing keine Besucher. Heute vormittag um halb elf aber würde einer kommen, den man wohl kaum abweisen konnte.
Während Etienne jetzt im stärker werdenden Licht über die ruhigen Mündungsarme nach Mersea Island hinüberschaute, versuchte er sich diesen Commander Dalgliesh vorzustellen. Die Nachricht, die Etienne der Polizei durch Claudia übermittelt hatte, war unzweideutig gewesen: Er habe keine Informationen zum Tode seines Sohnes beizusteuern, keine Theorien oder etwaige Erklärungen des Rätsels anzubieten und könne keinen Verdächtigen benennen. Seiner Ansicht nach sei Gerard einem Unfall zum Opfer gefallen, egal wie ungereimt oder verdächtig auch manche der Umstände wirken mochten. Tod oder Unfall dünke ihn wahrscheinlicher als jede andere Erklärung und sei ganz gewiß wahrscheinlicher als Mord. Mord. Dumpf hallte dieses kurze, schreckliche Wort in seinem Kopf wider, weckte nichts als Unglauben und Abscheu.
Und während er nun reglos, ja wie versteinert auf dem schmalen, grobkörnigen Strand verharrte, wo winzig kleine Wellen sich in einen dünnen, schmuddeligen Gischtschleier auflösten, während er zusah, wie die Lichter jenseits des Wassers eins nach dem anderen verloschen, je mehr der Himmel aufklarte, da zollte er seinem Sohn widerstrebend den Tribut der Erinnerung. Die war größtenteils leidvoll, aber wenn ihn die Bilder der Vergangenheit nun schon einmal bestürmten und sich nicht verscheuchen ließen, dann war es vielleicht besser, sich ihnen zu stellen, sie zu deuten und einzuordnen. Gerard war bis zur Pubertät mit einer ganz wesentlichen, sein Selbstvertrauen stärkenden Gewißheit aufgewachsen: Er war der Sohn eines Helden. Das war für jeden Jungen wichtig, aber ganz besonders für einen, der so stolz war wie er. Er mochte sich über seinen Vater ärgern, sich zu wenig geliebt, unterschätzt und vernachlässigt fühlen, aber er konnte ohne die Liebe auskommen, solange er den Stolz hatte, Stolz auf seinen Namen und auf das, wofür dieser Name stand. Es war ihm immer wichtig gewesen, zu wissen, daß der Mann, dessen Gene
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