Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
machte der Commander eine Bemerkung über Alter und Baustil des Hauses. Es war das erstemal, daß es ihm gelang, das Interesse seines Gastgebers zu wecken.
»Die Fassade stammt aus der Queen-Anne-Periode, wie Sie vermutlich erkannt haben, aber das Interieur ist weitgehend Tudor-Stil. Ursprünglich stand an dieser Stelle ein sehr viel älteres Gebäude. Gleich der Kapelle ist nämlich auch das Haus auf den Grundmauern der alten Römersiedlung Othona errichtet worden, von der es ja auch seinen Namen hat.«
»Die Kapelle würde ich mir übrigens gern einmal anschauen, falls ich meinen Wagen hier stehenlassen darf.«
»Aber gewiß.«
Doch der Ton, in dem Etienne seine Zustimmung erteilte, war alles andere als liebenswürdig. Man hätte glauben können, daß selbst der Anblick des Jaguars in seinem Vorhof ihn störte.
Dalgliesh war kaum zur Tür hinaus, da wurde sie auch schon hinter ihm zugeschlagen, und gleich darauf hörte er den Schlüssel im Schloß knarzen.
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Dalgliesh war gespannt, ob er die Kapelle verschlossen finden würde, aber die Tür ließ sich ohne weiteres öffnen, und er betrat ungehindert den stillen, schlichten Andachtsraum. Drinnen war es eisig kalt, und der Geruch von Erde und Mörtel kam ihm nicht nur unkirchlich, sondern vor allem auch sehr neuzeitlich vor. Die Kapelle war karg und einfach ausgestattet. Über dem steinernen Altar hing ein griechisches Kruzifix, rechts und links davon stand je eine große Vase mit getrockneten Blumen, dann gab es noch ein paar Bänke und einen Ständer mit Traktaten und Führern. Dalgliesh faltete einen Geldschein zusammen und schob ihn in den Opferstock, dann nahm er einen Kirchenführer vom Ständer und setzte sich damit in eine Bank. Er wunderte sich, woher plötzlich dieses Gefühl der Leere und Niedergeschlagenheit in ihm kam. Immerhin gehörte diese Kapelle zu den ältesten Sakralbauten Englands, wenn sie nicht das älteste Zeugnis überhaupt war, das einzig erhaltene Denkmal der anglokeltischen Kirche in diesem Teil des Landes, eine Gründung des heiligen Cedd, der bereits 653 in der alten römischen Festung Othona gelandet war. Seit dreizehnhundert Jahren trotzte also dieses kleine Kirchlein nun schon der kalten, unwirtlichen Nordsee. Wo, wenn nicht hier, konnte man sich das ersterbende Echo Gregorianischer Gesänge vorstellen und den bewegenden Nachhall einer eintausenddreihundertjährigen Gebetslitanei?
Ob man das Gotteshaus als geheiligt empfand oder nicht, war eine Frage der persönlichen Wahrnehmung, und daß Dalgliesh im Moment nichts weiter empfinden konnte als jene befreiende Druckminderung, die er immer verspürte, wenn er ganz allein war, lag nicht an der Umgebung, sondern einfach an seiner blockierten Vorstellungskraft. Er saß still da und wünschte sich, er könne wieder das Meer hören, so wie vorhin im Freien. Ja, er sehnte sich geradezu nach diesem endlosen, bald anschwellenden, bald abflauenden Rauschen, das Geist und Herz mehr als jeder andere Laut der Natur veranschaulicht, wie unerbittlich die Zeit verrinnt und mit ihr Generationen unbekannter und unfaßbarer Menschenleben samt ihren kurzen Leiden und noch kürzeren Freuden. Allein, er war nicht hierhergekommen, um zu meditieren, sondern um über Mord nachzudenken und über die unmittelbare Demütigung, die ein solcher Mord bedeutet. Er legte das Büchlein hin und ließ in Gedanken noch einmal das eben geführte Gespräch Revue passieren.
Der Besuch war enttäuschend verlaufen. Er hatte zwar hierherkommen müssen, aber die Fahrt erwies sich als noch unergiebiger, als er befürchtet hatte. Und doch konnte er sich nicht von dem Gefühl freimachen, daß es in Othona House etwas Wichtiges zu erfahren gab, etwas, das Jean-Philippe Etienne ihm vorenthalten hatte. Es war natürlich möglich, daß Etienne es ihm nur nicht gesagt hatte, weil es ihm entfallen war oder weil er es für unwichtig hielt, ja weil ihm vielleicht gar nicht klar war, daß er es wußte. Dalgliesh dachte wieder an den Kern des Rätsels, das verschwundene Diktiergerät, die Schramme in Gerard Etiennes Mund. Der Mörder hatte den dringenden Wunsch gehabt, mit seinem Opfer zu sprechen, bevor, nein, sogar während es starb. Er hatte Gerard Etienne tot sehen wollen, aber er wollte auch, daß Etienne wußte, warum erstarb. Steckte dahinter nicht mehr als die grenzenlose Eitelkeit eines Mörders, oder gab es doch noch einen anderen Grund, einen, der in Etiennes Vergangenheit lag? Und wenn dem so war, dann mußte zumindest
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