Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
das Fenster, und entsprechend waren auch das lange Sofa nebst zwei Sesseln aus weichem schwarzen Leder um den niedrigen Couchtisch ausgerichtet.
Es gab nur ein einziges Foto. Auf einem Bücherregal stand im Silberrahmen das Atelierporträt eines jungen Mädchens, vermutlich Etiennes Verlobte. Feines, in der Mitte gescheiteltes Blondhaar umrahmte ein ovales, zartknochiges Gesicht mit großen Augen und einem etwas zu kleinen Mund, wofür aber die volle, hinreißend geschwungene Oberlippe entschädigte. Ob auch diese junge Frau zu diesen teuren Anschaffungen gehörte, die der Mann mit Geschmack sich eben leistete? In dem Gefühl, es könne vielleicht aufdringlich wirken, wenn er das Foto gar zu eingehend studierte, wandte Daniel sich dem einzigen Gemälde zu, einem großen Ölporträt von Etienne und seiner Schwester, das an der Wand gegenüber vom Fenster hing. Im Winter, bei geschlossenen Vorhängen, wurde dieses lebhafte Bild gewiß zum Mittelpunkt des Raums, ein Bild, das durch Farben, Stil und Pinselführung schon fast aufdringlich die Meisterschaft des Künstlers proklamierte. Vielleicht hätte ja Etienne noch in dieser oder der kommenden Woche seine Wintersaison offiziell damit eröffnet, daß er Sofa und Sessel umdrehte und auf dieses Porträt ausrichtete. Daniel war selbst ein bißchen irritiert darüber, daß er sich, obwohl ihm das ganz unsinnig schien, derart mit dem Lebensrhythmus des Toten identifizierte; vor allem, weil von Etienne selbst keine Spur zu entdecken war, keines der unwichtigen, aber gerade darum so anrührenden Überbleibsel eines jäh und unerwartet beendeten Lebens, sei es der halbleer gegessene Teller, das aufgeschlagene, mit den Textseiten nach unten liegengebliebene Buch oder der ungeleerte Aschenbecher, eben all die kleinen Schlampereien und Unordentlichkeiten des normalen Alltagslebens.
Er sah, daß jetzt auch Kate das Ölgemälde betrachtete. Bei ihr war das nicht weiter verwunderlich, ihre Vorliebe für moderne Kunst war bekannt. »Das ist doch ein Freud, oder?« wandte sie sich an Claudia Etienne. »Ein wundervolles Bild.«
»Ja, nicht wahr? Mein Vater hat es malen lassen, als Geschenk zu Gerards einundzwanzigstem Geburtstag.«
Ja, es ist alles da auf diesem Bild, dachte Daniel, der neben Kate getreten war – die arroganten, hübschen Züge, die Intelligenz, das Selbstvertrauen, die Gewißheit, daß ihm das Leben zu Füßen liegt. Neben der Hauptfigur wirkte die Schwester jünger, verletzlicher, aber ihr argwöhnischer Blick schien den Maler zum Schlimmsten herauszufordern.
»Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?« fragte Claudia Etienne. »Es würde nicht lange dauern. Man konnte sich nie darauf verlassen, daß man hier was Eßbares findet – Gerard aß meistens auswärts –, aber Wein und Kaffee waren immer da. Wenn Sie wollen, können Sie ruhig mitkommen in die Küche, aber zu sehen gibt’s da nichts. Gerards Papiere sind alle in dem Sekretär dort drüben. Der ist seitlich zu öffnen, mit einem versteckten Riegel. Sie können gern nachschauen, aber viel Freude wird Ihnen das Spionieren hier nicht machen. Alle wichtigen Dokumente sind nämlich auf der Bank deponiert, und seine Geschäftsunterlagen hatte er natürlich in Innocent House. Die haben Sie ja bereits an sich genommen. Gerard hat immer so gelebt, als rechne er damit, von einem Tag auf den anderen zu sterben. Eins habe ich allerdings noch für Sie. Hier, das Schreiben fand ich ungeöffnet auf der Fußmatte. Es ist vom 13. Oktober datiert, dürfte also am Donnerstag mit der zweiten Post gekommen sein. Ich sah keinen Grund, es nicht zu lesen.«
Sie reichte Kate einen unbeschriebenen weißen Umschlag. Der Briefbogen darin war von der gleichen ausgesuchten Qualität und mit geprägtem Kopf. Die Handschrift war ziemlich groß, krakelig, mädchenhaft.
Daniel las über Kates Schulter mit.
Lieber Gerard,
auf diesem Wege teile ich Dir mit, daß ich unsere Verlobung auflösen möchte. Ich sollte wohl hinzufügen, daß es mir leid tut, Dich zu kränken, aber ich glaube nicht, daß Du gekränkt sein wirst, außer in Deinem Stolz. Mir wird es mehr ausmachen als Dir, freilich auch nicht sehr viel und nicht allzu lange. Mama meint, wir sollten eine Notiz in die Times setzen lassen, weil dort ja auch die Verlobungsanzeige erschienen ist, aber ich finde, das eilt vorerst nicht. Laß es Dir gutgehen. Es war schön, solange es dauerte, aber es hätte mehr Pep dabeisein können.
Lucinda.
Darunter folgte noch ein Postskriptum:
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