Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
unzähligen kleinen Wasserläufen, ein tückischer, durchweichter Teppich aus sanften Blau-, Grün- und Grautönen, mit vereinzelten grünschillernden Prielen dazwischen, in denen die Meerwasserlachen so verführerisch funkelten, als sei das Marschland mit Edelsteinen besetzt. Hören konnte er das Meer zwar, aber da es ein ruhiger Tag war und nur ein leichter Wind durchs Schilf strich, drang es so sachte an sein Ohr wie ein leise ersterbender Seufzer.
Er klingelte und hörte, wie das gedämpfte Läuten sich drinnen fortsetzte, aber es dauerte noch über eine Minute, bevor er das Schlurfen nahender Schritte vernahm. Knarzend wurde ein Riegel zurückgeschoben, und er hörte, wie sich der Schlüssel drehte. Dann ging die Tür auf.
Die Frau, die ihn ausdruckslos ansah, war alt – wahrscheinlich an die Achtzig, dachte er –, aber ihre fleischig-korpulente Gestalt hatte nichts Hinfälliges. Sie trug ein schwarzes, hochgeschlossenes Kleid, das am Hals mit einer von matten Staubperlen gefaßten Onyxbrosche befestigt war. Ihre Beine über den schwarzen Schnürschuhen waren stark geschwollen, und der hochgeschnürte Busen wölbte sich formlos wie ein Polster über einer wallenden, weißgestärkten Schürze. Ihr breites Gesicht hatte die Farbe von Pastetenteig, und die Wangenknochen sprangen scharf wie Riffe unter den faltigen, argwöhnischen Augen hervor. Bevor er etwas sagen konnte, fragte sie: »Vous êtes le Commandant Dalgliesh?«
»Oui, Madame, je viens voir Monsieur Etienne, s’il vous plaît.«
»Folgen Sie mir.«
Sie sprach seinen Namen so entstellt aus, daß er ihn auf Anhieb gar nicht wiedererkannte, aber ihre Stimme war tief und kräftig, mit einem Ton selbstbewußter Autorität. Die Frau mochte in Othona House zum Personal zählen, aber unterwürfig war sie nicht. Sie trat zur Seite, um ihn hereinzulassen, und er wartete, bis sie die Tür wieder verschlossen und gesichert hatte. Der Riegel über ihrem Kopf war schwer, der Schlüssel groß und altmodisch, und es kostete sie einige Mühe, ihn umzudrehen. Die Venen an ihren altersbleichen, fleckigen Händen standen vor wie purpurne Seilstränge, und die kräftigen, abgearbeiteten Finger waren voller Gichtknoten.
Sie führte ihn durch eine holzgetäfelte Diele zu einem Zimmer im rückwärtigen Teil des Hauses. Peinlich auf Abstand bedacht, als ob er eine ansteckende Krankheit hätte, meldete sie ihn an. »Le Commandant Dalgliesh.« Dann schloß sie die Tür so nachdrücklich, als käme es ihr vor allem darauf an, sich von diesem unerwünschten Gast zu distanzieren.
Der Raum war überraschend hell nach dem Dunkel des Flurs. Zwei hohe, mehrfach unterteilte und mit Läden versehene Fenster gingen auf einen baumlosen Garten hinaus, der von gepflasterten Wegen unterteilt und anscheinend dem Anbau von Gemüsen und Kräutern vorbehalten war. Der einzige Farbtupfer kam von den großen Terrakotta-Trögen voll später Geranien, die den Hauptweg säumten. Der Raum diente offenbar gleichzeitig als Wohnzimmer und als Bibliothek. Drei Wände waren bis zu einer bequem erreichbaren Höhe von Bücherregalen gesäumt, und darüber hingen Drucke und Landkarten. Auch auf dem Trommeltisch in der Mitte des Zimmers türmten sich Bücher. Linker Hand befand sich ein gemauerter Kamin, in dem ein kleines Holzfeuer brannte. Der Kaminaufsatz war von schlichter Eleganz.
Jean-Philippe Etienne saß in einem hochlehnigen grünen Ledersessel rechts vom Feuer, machte aber keine Anstalten, seinen Gast zu begrüßen, bis Dalgliesh fast vor ihm stand. Da endlich erhob er sich und streckte ihm die Hand entgegen. Dalgliesh spürte die Berührung der kalten Finger kaum zwei Sekunden lang. Die Zeit, so dachte er in diesem Moment, vermag wahrlich jede Persönlichkeit zum Stereotyp reduzieren. Sie kann die Züge eines älteren Menschen erschlaffen und zerfließen lassen, bis sie nichtssagend und kindisch wirken, oder sie entblößt sie so radikal, bis nur noch Knochen und Muskeln übrig sind und der Tod bereits dem lebenden Menschen aus den eingesunkenen Augen starrt. Bei Etienne war ihm, als könne er die Kontur jedes Knochens, das Zucken jedes Muskels in seinem Gesicht verfolgen. Seine hagere Gestalt war immer noch aufrecht, auch wenn er einen steifen Gang hatte, und die elegant gepflegte Erscheinung verriet keinerlei Zeichen von Altersschwäche. Das schüttere graue Haar war aus der hohen Stirn zurückgekämmt, der breite Mund unter der vorspringenden, langen Nase war extrem dünnlippig, die
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