Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
ein Teil davon hier in Othona House präsent sein; nur hatte er, Dalgliesh, es nicht finden können.
Er fragte sich, was Etienne wohl in dieses öde Sumpfgebiet verschlagen haben mochte und warum er an dieser eintönigen, windzerzausten Küste hängengeblieben war, wo das Moor sich ausbreitet wie ein saurer, poröser Schwamm, der die Ausläufer der kalten Nordsee aufsaugt. Ob er je Sehnsucht verspürte nach den Bergen seiner Heimatprovinz, nach den lebhaft raschen Klängen seiner Muttersprache in Straßen und Cafés, nach den Tönen, Gerüchen und Farben des ländlichen Frankreich? Hatte er sich an diesen trostlosen Ort zurückgezogen, um die Vergangenheit zu vergessen oder um sie in der Erinnerung lebendig zu erhalten? Was hatten diese weit zurückliegenden, unglücklichen alten Geschichten mit dem Tod seines Sohnes fast fünfzig Jahre später zu tun, des Sohnes, der eine englische Mutter hatte, in Kanada geboren und in London ermordet wurde? Was für Fangarme hatten sich, wenn überhaupt, aus ferner Vergangenheit bis in die Gegenwart ausgestreckt und mit unerbittlicher Kraft um Gerard Etiennes Hals geschlungen?
Er sah auf die Uhr. Es war erst eine Minute vor halb zwölf. Er würde sich die Zeit nehmen, die Gedenksteine in der St.-Georgeus-Kirche in Bradwell zu besichtigen, aber nach diesem kurzen Abstecher würde ihm wohl keine Ausrede mehr bleiben, um nicht unverzüglich nach London zurückzufahren und doch noch in New Scotland Yard zu Mittag zu essen.
Er saß noch in der Bank und blätterte flüchtig in dem Führer, als die Tür aufging und zwei ältere Frauen eintraten. Nach Kleidung und Schuhwerk sowie dem kleinen Proviantbeutel zu urteilen, den jede bei sich trug, waren sie für eine längere Wanderung gerüstet. Bei seinem Anblick wirkten sie beunruhigt, ja fast ein bißchen furchtsam, und da er sich denken konnte, daß ihnen die Anwesenheit eines einzelnen Mannes vielleicht nicht willkommen war, wandte er sich mit einem raschen »Guten Morgen« zum Gehen. Als er sich an der Tür noch einmal kurz umwandte, sah er, daß sie bereits niedergekniet waren. Was, so fragte er sich, mochten sie wohl an diesem stillen Flecken finden? Und ob er es auch gefunden hätte, wenn er mit mehr Demut im Herzen gekommen wäre?
40
Gerard Etiennes Wohnung lag im achten Stock des Barbican. Claudia Etienne hatte versprochen, sie um vier Uhr dort zu erwarten, und als Kate läutete, ging auch wirklich gleich die Tür auf, und Claudia trat wortlos beiseite, um sie hereinzulassen.
Draußen dämmerte es schon, aber der große, langgestreckte Raum war immer noch lichtdurchflutet, so wie ein Zimmer ja auch nach Sonnenuntergang noch ein Weilchen die Wärme des Tages hält. Die langen, cremefarbenen Leinenvorhänge waren zurückgezogen, so daß man über den Balkon einen freien Blick auf das hübsche Panorama mit dem See und dem eleganten Turm einer Stadtkirche genoß. Daniels erste Reaktion war der Wunsch, selbst so eine Wohnung zu besitzen, die zweite, daß er noch bei keinem Gang durch die Wohnung eines Mordopfers eine gesehen habe, die so unpersönlich und ordentlich war, so frei von den Rückständen des plötzlich ausgelöschten Lebens. Hier sah es aus wie in einer Musterwohnung, die man obendrein noch erlesen ausgestattet hatte, um einen Käufer anzulocken. Dafür wäre aber wohl nur ein zahlungskräftiger Kunde in Frage gekommen, denn nichts in diesem Apartment war billig gewesen. Und im selben Moment wurde Daniel auch klar, daß er sich geirrt hatte – es war nicht unpersönlich, nein, es verriet genausoviel über seinen Besitzer wie das überladenste Wohnzimmer in der Vorstadt oder irgendein Nuttenschlafzimmer. Er hätte damit leicht an dieser Game-Show im Fernsehen teilnehmen können: »Beschreiben Sie den Bewohner dieses Apartments«, und die Antwort wäre gewesen: männlich, jung, verwöhnt, unverheiratet (diesem Zimmer fehlte jeglicher weibliche Touch), führt ein sehr geregeltes Leben. Offenbar war Etienne auch musikalisch gewesen; die teure Stereoanlage hätte bei jedem gutsituierten Junggesellen stehen können, nicht aber der Flügel. Die Möbel waren durchwegs modern, helles, unpoliertes Holz, in unauffällig elegantem Stil verarbeitet, was für Schrankelemente, Bücherwand und Schreibtisch gleichermaßen galt. Am anderen Ende des Zimmers, gleich neben einer Tür, die vermutlich zur Küche führte, stand ein runder Eßtisch mit sechs dazu passenden Stühlen. Ein Kamin war nicht vorhanden. Blickfang des Zimmers war
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