Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
hatte sie an ihrer neuen Wohnung abgeholt, aber unten im Jaguar auf sie gewartet statt den Aufzug zu nehmen und oben bei ihr zu klingeln, worauf sie sich womöglich genötigt gefühlt hätte, ihn hereinzubitten. Er schätzte die eigene Privatsphäre zu sehr, als daß er es gewagt hätte, in die ihre einzudringen. Sie war, wie erwartet, auf die Minute pünktlich, kam ihm aber irgendwie verändert vor, was vermutlich daran lag, daß er sie so selten in Rock oder Kleid sah. Insgeheim lächelte er bei dem Gedanken, wie lange sie wohl geschwankt haben mochte, bevor sie entschied, daß Hosen bei einer Frau im Kloster vielleicht verpönt wären. Und ihm kam der leise Verdacht, daß er sich, obwohl er ein Mann war, vielleicht doch besser dort zurechtfinden würde als sie.
Seine eigentlich nie realistische Hoffnung, fünf Minuten für einen erfrischenden Strandspaziergang abzwacken zu können, war diesmal von vornherein aussichtslos. Das Kloster stand auf einer Anhöhe über einer öden, aber verkehrsreichen Hauptstraße, von der es durch eine zweieinhalb Meter dicke Backsteinmauer getrennt war. Das Haupttor war offen, und beim Näherkommen erblickten sie ein stattliches Gebäude in Ziegelbauweise, das offenkundig aus viktorianischer Zeit stammte und ebenso offenkundig von Anfang an als kirchliche Einrichtung konzipiert worden war, wahrscheinlich als Domizil für die ersten Schwestern des Ordens. Die vier Stockwerke mit ihren dicht an dicht in strenger Präzision angeordneten, völlig gleichen Fensterreihen weckten in Dalgliesh unangenehme Assoziationen an ein Gefängnis, ein Gedanke, der vielleicht auch dem Architekten gekommen war, denn die unstimmigen Ergänzungen, die jeweils die Eckpunkte des Gebäudes markierten – links ein Spitzpfeiler und rechts ein Turm –, waren allem Anschein nach später hinzugefügt worden, und zwar ebensosehr zur Auflockerung wie als Zierat. Eine breite, kiesbestreute Auffahrt führte zu einem Portal aus fast schwarzer Eiche mit schweren Eisenbeschlägen, das besser zum Eingang eines normannischen Bergfrieds gepaßt hätte. Zu ihrer Rechten sahen sie im Vorbeifahren eine Backsteinkirche, in der eine ganze Pfarrgemeinde Platz gehabt hätte, mit plumpem Turm und schmalen Spitzbogenfenstern. Zur Linken war Kontrast geboten: ein niedriger, moderner Bau mit überdachter Terrasse und einem kleinen architektonischen Garten, nach Dalgliesh’ Schätzung das Hospiz für die Sterbenden.
Vor dem Kloster stand nur ein einziger Wagen, ein Ford, und Dalgliesh parkte ordentlich daneben. Als er ausgestiegen war und über die terrassierten Grünflächen zurückschaute, konnte er endlich doch noch einen flüchtigen Blick auf den Ärmelkanal erhaschen. Kurze Sträßchen mit bunten kleinen Häusern in Hellblau, Pink oder Grün, darüber die schwankende Geometrie der Fernsehantennen als Dachschmuck, führten im Parallelverbund hinunter zum abgestuften Blau des Meeres und kontrastierten in ihrer peniblen Kleinbürgerlichkeit mit dem wuchtigen viktorianischen Klotz in seinem Rücken.
Im Hauptgebäude rührte sich nichts, aber als er sich umdrehte, um den Wagen abzuschließen, sah er eine Nonne mit einem Patienten im Rollstuhl vom Hospiz her kommen. Der Patient trug eine weißblau gestreifte Mütze mit einer roten Bommel daran und war bis zum Kinn in eine Decke eingemummelt. Die Nonne beugte sich hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr, und der Patient lachte, ein spärliches Rinnsal froher Töne, das in die Stille tröpfelte.
Dalgliesh zog an der Eisenkette links von der Tür und konnte selbst durch die eisenverstärkten, dicken Eichenbohlen den Nachhall drinnen hören. Das quadratische Sprechgitter wurde aufgeschoben, und eine Nonne mit sanftmütigem Gesicht schaute heraus. Dalgliesh gab seinen Namen an und zeigte den Dienstausweis vor. Die Tür öffnete sich fast sofort, und stumm, aber immer noch lächelnd, bedeutete die Nonne ihnen einzutreten. Sie kamen in eine geräumige Halle, wo es nicht unangenehm nach einem milden Desinfektionsmittel roch. Der Fußboden war in schwarzweißem Schachbrettmuster gefliest und sah aus wie frisch geschrubbt. Die Wände waren kahl bis auf ein unverkennbar viktorianisches Sepiaporträt einer eindrucksvollen, streng dreinblickenden Nonne, die Dalgliesh für die Gründerin des Ordens hielt, und eine Reproduktion von Millais’ Christus in der Werkstatt des Zimmermanns in einem prunkvoll geschnitzten Rahmen. Die Nonne, die fortwährend lächelte, aber immer noch kein Wort
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