Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
sein Herz. Vielleicht hatten sie ja jetzt die Chance, einander zu lieben, und zwar als gleichberechtigte Partner?
Heute abend ließ er sie nur ungern allein, aber er hatte keine Wahl. Ruperts Freund Ray mußte spätestens um halb zwölf weg, und Rupert war zu krank, als daß man ihn auch nur für ein paar Stunden hätte allein lassen können. Und da war noch eine andere Schwierigkeit. Er hätte doch kaum vorschlagen können, die Nacht in ihrem Gästezimmer zu verbringen, ohne daß das aufdringlich erschienen wäre. Immerhin war es auch denkbar, daß sie sich ihren bösen Geistern lieber allein stellte, ohne daß auch er ihr noch lästig fiel. Aber das war immer noch nicht alles. Er sehnte sich danach, mit ihr zu schlafen, doch er wollte nicht, daß sie, statt aus ebenbürtigem Verlangen, nur in sein Bett kam, weil Schock und Kummer sie wehrlos und trostbedürftig machten. Dazu war das ein viel zu wichtiger Schritt für ihn. Wie verkorkst wir doch alle sind, dachte er. Wie schwer es ist, sich selbst zu erkennen, und wenn’s doch einmal gelingt, wieviel schwerer noch, sich zu ändern.
Aber das Problem löste sich von selbst, denn als er fragte: »Kann ich dich auch wirklich allein lassen, Frances?«, da antwortete sie mit fester Stimme: »Aber natürlich. Außerdem, Rupert braucht dich doch zu Hause. Und sollte ich das Bedürfnis nach Gesellschaft haben, dann ist ja Gabriel unten. Aber es geht bestimmt auch so. Ich bin ans Alleinsein gewöhnt, James.«
Sie telefonierte nach einem Taxi, und er fuhr auf dem schnellsten Weg heim, nämlich mit dem Taxi zur Bank of England und von dort mit der Central Line bis Notting Hill Gate.
Er sah den Krankenwagen gleich, als er, von der Hillgate Street kommend, in seine Straße einbog. Sein Herz machte einen Satz. Als er losrannte, sah er, daß die Sanitäter Rupert schon in einem Tragstuhl die Vordertreppe heruntertrugen. Er war so in Decken eingemummelt, daß man nur sein Gesicht sehen konnte, ein Gesicht, das für James selbst jetzt, im Zustand äußerster Erschöpfung und vom Tode gezeichnet, nichts von seiner Schönheit verloren hatte. Während er hilflos zusah, wie die beiden Männer den Tragstuhl routiniert die Stufen hinuntermanövrierten, hatte er das Gefühl, als ob seine eigenen Arme die unerträgliche Leichtigkeit ihrer Last spüren könnten.
»Ich komme mit«, sagte er.
Aber Rupert schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Sie mögen’s nicht, wenn sich zu viele Leute im Krankenwagen drängen. Und Ray fährt schon mit.«
»Ja, genau«, sagte Ray, »ich bleib’ bei ihm.«
Sie hatten es eilig, wegzukommen. Zwei Autos, die nicht vorbeikonnten, warteten ohnehin schon ungeduldig darauf, daß es weiterging. James stieg dennoch kurz in den Krankenwagen und schaute stumm und suchend in Ruperts Gesicht.
Rupert sagte: »Tut mir leid wegen dem Durcheinander in deinem Wohnzimmer. Aber da ich wohl nicht zurückkomme, kannst du jetzt schön aufräumen und dann Frances einladen, ohne daß einer von euch das Gefühl hat, man müßte vorsichtshalber das Geschirr sterilisieren.«
»Wo bringen sie dich überhaupt hin, Rupert?« fragte James. »Ins Hospiz?«
»Nein, ins Middlesex.«
»Ich komm’ dich morgen besuchen.«
»Lieber nicht.«
Ray saß schon breit und behäbig im Krankenwagen, als wäre das sein angestammter Platz. Und so war es ja auch. Rupert wollte offenbar noch etwas sagen. James beugte sich zu ihm hinunter. »Diese Geschichte, du weißt schon, über Gerard Etienne. Das mit Eric und mir. Du hast das doch nicht geglaubt, oder?«
»Doch, Rupert, ich hab’s geglaubt.«
»Es ist aber nicht wahr. Wie denn auch? Es war bloß ein Ulk. Du hast doch bestimmt schon mal was von Inkubationszeit gehört. Nein, nein, du hast’s geglaubt, weil du es glauben wolltest. Armer James! Wie sehr mußt du ihn gehaßt haben. Aber nun mach doch nicht so ein Gesicht. Guck mich nicht so entsetzt an.«
James war es, als hätte er überhaupt keine Stimme mehr. Und als er endlich doch sprach, war er selber betroffen von der Endgültigkeit seiner Worte und davon, wie banal und sinnlos sie klangen. »Soweit alles in Ordnung, Rupert?«
»Ja, alles okay. Endlich. Mach dir keine Sorgen, und komm mich nicht besuchen. Denk dran, was Chesterton gesagt hat: ›Lerne, das Leben zu lieben, ohne ihm zu vertrauen.‹ Daran hab’ ich mich immer gehalten.«
Er wußte nicht, wie und wann er aus dem Krankenwagen geklettert war, aber er hörte den gedämpften Knall, mit dem ihm die Doppeltür vor der
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