Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
Leiche fand, irgend jemand von der Themse aus was gesehen hat. Auch bei den Ausflugsdampfern möchtest du deswegen nachfragen. Die Carling hatte offenbar keine näheren Angehörigen mehr. Die Schlüssel zu ihrer Wohnung haben wir in ihrer Tasche gefunden, und morgen vormittag werden wir uns mal dort umsehen. Mrs. Carlings Agentin soll sich um halb zwölf da mit uns treffen. Vorher werden AD und ich noch mal mit dieser Daisy Reed sprechen. Ach ja, und noch was. Verflucht, Daniel, daran hätten wir auch wirklich selber denken können. Der Chef will, daß die Spurensicherung sich morgen früh als allererstes die verlagseigene Fähre vornimmt. Peverell Press wird irgendeinen Ersatz finden müssen, um die Leute von Charing Cross abzuholen. Mann, ich komm’ mir vielleicht blöd vor! AD muß sich ja fragen, ob wir ohne ihn überhaupt imstande sind, über die eigene Nasenspitze wegzugucken.«
»Aha, er denkt also, sie hätte die Fähre benutzt, um sich aufzuhängen. Einfacher wär’s so bestimmt gegangen.«
»Natürlich, aber es muß nicht unbedingt die Carling selbst gewesen sein.«
»Aber warte mal, die Fähre war doch ordnungsgemäß an ihrem Platz vertäut – auf der anderen Seite der Ufertreppe!«
»Genau. Und das heißt, wenn das Boot benutzt wurde, dann muß es jemand hin und hergefahren haben – vor und nach dem Tod der Carling. Wenn sich das beweisen läßt, dann sind wir einen großen Schritt näher dran, beweisen zu können, daß wir’s hier mit Mord zu tun haben.«
49
Gegen zehn war Gabriel Dauntsey in seine Wohnung hinuntergegangen, und James de Witt und Frances blieben allein. Beide merkten jetzt, daß sie hungrig waren. Von der Ente hatte Mandy beide Portionen aufgegessen, aber solch schwere Kost hätten sie im Moment ohnehin nicht vertragen. Sie waren in der mißlichen Lage, daß ihr Körper nach Nahrung verlangte, ohne daß ihnen etwas eingefallen wäre, worauf sie Appetit hatten. Am Ende brutzelte Frances ein großes Kräuteromelett, das sie sich teilten und mit mehr Genuß verzehrten, als beide für möglich gehalten hätten. Wie in stillschweigender Übereinkunft vermieden sie es tunlichst, über Esme Carlings Tod zu sprechen.
Bevor Dauntsey hinunterging, hatte Frances noch gesagt: »Eigentlich sind wir alle mitverantwortlich, nicht? Keiner von uns hat sich ernsthaft gegen Gerard behauptet. Wir hätten darauf bestehen sollen, daß man sich um Esmes Zukunft Gedanken macht. Einer von uns hätte zu ihr gehen und mit ihr reden müssen.«
Darauf hatte James sachte erwidert: »Frances, glaub mir, dieses Buch hätten wir nicht machen können. Nicht, weil es ein kommerzieller Titel war, nein, wir brauchen gängige Belletristik. Aber dieses Buch war ganz einfach schlecht. Es war Schund, Frances.«
»Ach, ein schlechtes Buch?« hatte Frances geantwortet. »Das schlimmste aller Verbrechen, wie? Die Sünde wider den Heiligen Geist! Na, sie hat wahrhaftig schwer gebüßt dafür.«
Die Bitterkeit, die Ironie ihres Tons hatten James verblüfft. Dergleichen sah ihr so gar nicht ähnlich. Aber seit dem Bruch mit Gerard hatte sie einiges von ihrer alten Sanftheit und Passivität verloren. Er beobachtete diese Veränderung mit leisem Bedauern, jedoch nicht ohne die Erkenntnis, daß sich in seiner Reaktion wieder einmal das ständig wiederkehrende Bedürfnis manifestierte, die Schwachen und Unschuldigen, die Getretenen und Verletzten aufzuspüren und zu lieben, sein Hang, eher zu geben als zu nehmen. Er wußte, daß man so keine gleichwertige Partnerschaft aufbauen konnte, daß immerwährende Güte und Nachsicht in ihrer subtilen Herablassung mitunter fast ebenso bedrückend für den geliebten Menschen sein können wie Grausamkeit oder Vernachlässigung. War das am Ende seine Art, sein Selbstwertgefühl aufzubessern – durch die Gewißheit, daß man ihn brauchte, auf ihn angewiesen war und ihn bewunderte für ein Mitgefühl, das, mit ehrlichen Augen betrachtet, nur eine besonders subtile Form emotionaler Bevormundung und geistigen Hochmuts war? War er denn auch nur einen Deut besser als Gerard, der Sex als Teil seiner persönlichen Machtspielchen einkalkulierte und einen besonderen Kitzel dabei verspürte, eine fromme Jungfrau zu verführen, weil er wußte, daß für sie, nach den Regeln ihres Glaubens, die Hingabe vor der Ehe einer Todsünde gleichkam? James hatte Frances schon immer geliebt, und er liebte sie noch. Er begehrte sie, wünschte sie sich in sein Leben, sein Haus und in sein Bett, ebenso wie in
Weitere Kostenlose Bücher