Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
komisch doch die Menschen sind, dachte sie. Nichts, was er ihr über Pracht und Schrecken des Flusses erzählt hatte, war für ihn so außergewöhnlich und wunderbar wie die Entdeckung dieser einen Blume.
Als sie sich Innocent House näherten, erkannte Mandy die beiden letzten Passagiere, die noch am Pier warteten, es waren James de Witt und Emma Wainwright. Inzwischen war es dunkel geworden, und die Themse schimmerte glatt und dickflüssig wie Öl, ein pechschwarzer Strom, den die stetig dahintuckernde Fähre mit einem Fischschwanz weißer Gischt durchbrach. Mandy lief rasch und ohne stehenzubleiben über die Terrasse zu ihrem Motorrad. Nicht, daß sie abergläubisch oder besonders schreckhaft gewesen wäre, aber nach Einbruch der Dunkelheit wurde Innocent House trotz der beiden Kugellampen, die den Marmorboden der Terrasse in warmes, weiches Licht tauchten, eben noch geheimnisvoller und auch ein bißchen unheimlich. Im Gehen schaute sie starr geradeaus, ja zwang sich, nicht nach unten zu sehen, für den Fall, daß auf den Fliesen der legendäre Blutfleck zum Vorschein käme, und schon gar nicht hinauf zum höchsten Balkon, von dem sich vor langer Zeit die arme verwirrte Frau in den Tod gestürzt hatte.
Und so vergingen die Tage. Hilfsbereit, pflichtbewußt und rasch akzeptiert wanderte Mandy von Büro zu Büro, und ihrem scharfen, geschulten Auge entging so gut wie nichts: Miss Blacketts Kummer und die kalte Verachtung, mit der Mr. Gerard sie behandelte; Miss Frances’ angespanntes, bleiches Gesicht und ihre stoische Leidensmiene; der ängstliche Blick, mit dem George Mr. Gerard folgte, wann immer der am Empfang vorbeikam; Gespräche, von denen sie zufällig ein paar Brocken aufschnappte, die aber bei ihrem Eintreten immer sofort verstummten. Mandy wußte, daß die Belegschaft sich um die Zukunft sorgte. Über ganz Innocent House hing eine Atmosphäre der Beklommenheit, fast eine böse Vorahnung, die sie sehr wohl spürte und manchmal sogar ein bißchen genoß, weil sie sich, wie immer, als privilegierte Zuschauerin fühlte, als die Außenseiterin, die persönlich nicht bedroht war, wöchentlich ihren Lohn kassierte, niemandem Treue schuldete und gehen konnte, wann es ihr gefiel. Manchmal, gegen Ende des Tages, wenn die Dämmerung hereinbrach, der Fluß sich in eine schwarzglänzende, stille Fläche verwandelte und jeder Schritt auf dem Marmorboden in der Halle unheimlich widerhallte, fühlte sie sich unwillkürlich an die Stunden vor einem besonders schweren Gewitter erinnert, an die zunehmende Finsternis, die drückende Schwüle, den beißenden, metallischen Geruch und die Gewißheit, daß nichts diese Spannung lösen könne außer dem ersten Donnerschlag und einem gewaltigen Blitz, der den Himmel aufriß.
11
Es war Donnerstag, der 14. Oktober. Die Konferenz der Gesellschafter von Innocent House war auf zehn Uhr anberaumt, und wie es seine Gewohnheit war, hatte Gerard Etienne seinen Platz an dem ovalen Mahagonitisch im Sitzungssaal bereits eine Viertelstunde vorher eingenommen. Er saß auf der Seite, die die Fensterfront zur Themse hin im Blick hatte, und zwar genau in der Mitte. In einer Viertelstunde würden seine Schwester Claudia rechts und Frances Peverell links von ihm Platz genommen haben. James de Witt saß ihm gegenüber, mit Gabriel Dauntsey zu seiner Rechten. Die Sitzordnung hatte sich seit jenem Tag vor neun Monaten, als Etienne offiziell Vorsitz und Geschäftsleitung der Peverell Press übernommen hatte, nicht geändert. An dem Donnerstag hatten seine vier Kollegen vor dem Sitzungssaal herumgetrödelt, als widerstrebe es jedem von ihnen, als erster hineinzugehen. Als er dann zu ihnen stieß, hatte er ohne Zögern die Mahagoni-Doppeltür geöffnet, war selbstbewußt eingetreten und hatte in Henry Peverells Stuhl Platz genommen. Seine vier Partner folgten ihm geschlossen und setzten sich stumm, als gehorchten sie einem vorherbestimmten Plan, der ihre Stellung im Verlag zugleich etablierte und bestätigte. Er hatte an dem Tag Henry Peverells Platz eingenommen, als stünde ihm der von Rechts wegen zu, und so war es ja auch. Frances wohnte, so erinnerte er sich, bleich und fast stumm der kurzen Sitzung bei, und hinterher hatte James de Witt ihn beiseite genommen und gesagt: »Mußtest du dich denn unbedingt auf den Platz ihres Vaters setzen? Schließlich ist er erst seit zehn Tagen tot.«
Er spürte wieder jene Mischung aus Staunen und Verärgerung, die die Frage seinerzeit bei ihm ausgelöst hatte.
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