Adams Erbe (German Edition)
am frühen Nachmittag ab, und ich glaube, sie war ein wenig enttäuscht, dass ich mit leeren Händen vor ihrer Tür stand.
»Wohin fahren wir, Adam?«, fragte sie, während ich mich mit ihr auf dem Gepäckträger abstrampelte. Ich schwitzte vor Anstrengung und vor Aufregung, weil ihre Hände sich an mir festhielten. Endlich erreichten wir Marders Reich. Ich schloss das Tor auf. Erst vereinzelte Rosensorten zeigten schon ihre volle Pracht. Und ihr süßlicher Duft ließ noch die sinnenverwirrende Note vermissen, die sie im Sommer verströmten. Aber dieser Garten war der friedlichste Ort, den ich kannte. Eine andere Welt. Ein Reich außerhalb des Reiches.
Ich führte Anna zu dem Beet, in dem meine Brut ihre Wurzeln geschlagen hatte. Hunderte Knospen, die sich bald öffnen würden. Vorn im Beet steckte das Schild mit dem Namen, den ich für diese Zufallskinder ausgesucht hatte.
»Das ist dein Geschenk.«
»Annas Traum«, las sie vor und lachte.
»Einer ist nicht in Erfüllung gegangen, aber schau, wie viele du hast, wie viele noch Wirklichkeit werden können.«
Die zionistische Gruppe löste sich auf. Ben und viele andere brachen auf in das Land unserer Väter. Moses ging nicht mit ihnen. Er verliebte sich in eine resolute Krankenschwester namens Lara, der ebenfalls das Medizinstudium verwehrt worden war. Lara träumte nicht von Palästina, und so verschwand Zion auch aus den Träumen meines Bruders. Ihr Verstand war messerscharf, und sie schien so fest mit der Erde verwurzelt, dass wohl kein Sturm ihr jemals etwas würde anhaben können. Lara war auf eine kühle Art schön und so praktisch veranlagt, dass es schon weh tat. Auch wenn es schwer war, sie zu mögen, man musste sie einfach für ihre Stärke bewundern.
Anna erlaubte mir viel zu selten, sie zu sehen. Manchmal durfte ich sie von der Arbeit abholen und nach Hause begleiten. Wenn ich Anna förmlich anflehte, sie ins Kino oder ins Theater oder zu mir einladen zu dürfen, leuchteten ihre Augen jedes Mal für einen kurzen Moment auf, bevor sie mit einem leisen, aber bestimmten »Nein« antwortete.
Anna, warum hast du nicht wenigstens ein einziges Mal ja gesagt?
Mitte Juni gab es die Münchner Synagoge nicht mehr, und Herr Maiser, der ein Haus weiter wohnte, wurde verhaftet. Angeblich brachte man ihn nach Dachau, und das einzig und allein aufgrund einer Vorstrafe wegen eines Verkehrsvergehens, das über ein Jahr zurücklag. Natürlich war Maiser Jude.
Zwei Tage später öffneten sich Annas Träume. Sie mussten sich erst in der Nacht dazu entschlossen haben. Die Blüten waren blassrosa, und ich fühlte mich ein bisschen wie Gott. Obwohl wir nicht verabredet waren, holte ich Anna von der Arbeit ab. Und als ich ihr die zwölf Rosen überreichte, lachte sie. Sie hielt ihre Blumen wie eine Trophäe in der Hand, während wir die Straße entlangliefen.
Vor ihrer Haustür fragte sie mich, ob ich noch mit hochkommen wolle.
Die Wohnung, in der Anna mit ihren Eltern lebte, war winzig. Zwei kleine Zimmer. Das größere diente als Wohnzimmer und als Schlafstätte für Herrn und Frau Guzlowski, das andere gehörte Anna. Das Bad draußen auf dem Flur teilte sich die Familie mit den Nachbarn. Eine richtige Küche gab es nicht.
Und in diese für drei Menschen ohnehin schon enge Behausung quetschte sich die Angst mit hinein.
Die Angst hat einen eigenen Geruch. Selbst der Duft von Annas Träumen konnte ihn nicht verdrängen.
Die Guzlowskis begrüßten mich herzlich, und nachdem wir eine Tasse wässrigen Kaffees mit ihnen getrunken hatten, gingen wir in Annas Zimmer. An einer der ansonsten kahlen Wände hing ein Spiegel. In dem Raum: ein Bett, ein Stuhl, eine Kommode. Dazwischen kaum Platz, um einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Geschickt sprang Anna über das Bett. Sie öffnete eine Kommodenschublade. Holte ein Band heraus. Ein himmelblaues Band. Ein Band, wie Mädchen es in ihren Haaren tragen. Sie schnürte es um ihre Träume und hängte die Rosen, mit den Köpfen nach unten, an den Spiegel. Ich stieß gegen jedes der drei Möbelstücke, bevor ich neben ihr zu stehen kam.
Wir atmeten im Gleichklang. Bei jedem Ausatmen berührten sich unsere Schultern. An der Wand unser Spiegelbild. Ihr Gesicht neben dem meinen.
»Eines Tages werden ihre Blüten brüchig sein und ihre Farbe verblasst, aber trotzdem werden sie noch da sein«, sagte Anna. Dieses Mal nahm sie meine Hand und hielt sie fest. Einen Augenblick lang glaubte ich, die ganze Welt in mir zu tragen.
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