Adams Erbe (German Edition)
Millionen Vögel, die in mir zum Himmel aufstiegen. Meere und Flüsse, die durch meine Adern rauschten. Als sich unsere Blicke dann trafen, verschwand mein Gesicht, und es gab nur noch dich, Anna.
Du warst das einzig Wirkliche in dieser elenden Kammer, und hätte ich geahnt, wie wenig Zeit uns noch bleiben würde, dann hätte ich es gewagt, dich einfach zu küssen.
Es war das Jahr 1938, und die Männer, die an unserer Dachbodenwand hingen und dieses Land regierten, stellten unser Leben auf den Kopf.
Kieler und allen anderen jüdischen Ärzten wurde die Approbation entzogen. Auch die jüdischen Rechtsanwälte verloren ihre Zulassung. In unsere Reisepässe kam ein dickes »J«.
Außerdem erfuhren wir, dass wir ab dem 1. Januar 1939 einen zweiten Vornamen bekommen sollten. »Israel« für die Männer, »Sara« für die Frauen.
Die Sache mit den neuen Vornamen bestärkte Edda nun vollends in unserer Theorie, dass Adolf trank.
»So etwas hätte dem Itzigen auch einfallen können. Auf so was kommt nur ein Säufer.«
Der Säufer holte die Sudeten heim ins Reich und schickte Annas Eltern zurück nach Polen, das Land, das sie vor mehr als zwanzig Jahren verlassen hatten. Aber die Polen wollten die Guzlowskis auch nicht. Annas Eltern waren nicht die einzigen Eltern, die im Niemandsland ihres weiteren Schicksals harrten. Auch ein gewisser Herschel Grynszpan hatte nun einen staatenlosen Vater und eine staatenlose Mutter.
Nachdem man Herrn und Frau Guzlowski geholt hatte, kam Anna in Marders Garten und erzählte mir, was sich ereignet hatte. Meinen Vorschlag, zu uns zu ziehen, lehnte sie ab, denn ihre arische Chefin hatte Anna bereits ein Zimmer angeboten. Das schien ihr am sichersten zu sein. Trotzdem gab ich ihr für alle Fälle meine Adresse.
Ich hätte besser auf dich aufgepasst, hörst du?
Anna erlaubte mir nicht mehr, sie abends von der Arbeit abzuholen, denn von nun an ging sie immer mit ihrer Chefin nach Hause. Und sie hatte Angst, dass unsere Freundschaft deren Missfallen erregen könnte. Warum nur? Wir hatten uns ja noch nicht einmal geküsst. Aber Annas Angst war übermächtig, kein noch so vernünftiges Argument konnte sie umstimmen.
»Ich komme dich hier besuchen, wann immer ich kann, Adam.«
Herschel Grynszpan gab in Paris zwei Schüsse ab, für seine Eltern und auch für Annas Eltern und all die anderen Eltern und Söhne und Töchter und Ehemänner und Frauen, die niemand in sein Land lassen wollte.
Am 9. November erhielten wir in aller Herrgottsfrühe eine Nachricht von Bussler. Eine Botschaft, die uns ein kleiner Junge überbrachte: Geht heute Abend nicht aus dem Haus!!!! Maestro
Ich fuhr zu Annas Schneiderei und wartete vor der Tür in der Hoffnung, dass sie vielleicht eine Mittagspause machen würde. Sie kam tatsächlich heraus. Ich achtete nicht auf ihren vorwurfsvollen Blick und rannte auf sie zu.
»Adam, ich habe dir doch gesagt…«
»Geh heute Abend nicht aus dem Haus.«
»Warum?«
»Versprich mir, dass du heute Abend nicht aus dem Haus gehst. Versprich mir das, bitte.«
»Ich wollte aber heute Abend…«
»Nein, Anna. Bitte…«
»Gut. Ich verspreche es.«
Ich konnte nicht anders, ich musste nach ihren Händen greifen und ihren Mund küssen. Und ich werde nie erfahren, ob sie meinen Kuss erwiderte, weil meine Lippen so plötzlich die ihren berührten, oder weil es ihr gefiel.
Wie lange standen wir so da, Anna? Und warum sind wir nicht noch etwas länger stehen geblieben?
»Adam, was… Das… Geh jetzt, los, geh, Adam, wir sehen uns bald wieder.«
Warum habe ich auf dich gehört?
Warum habe ich dich nicht einfach mitgenommen?
In dieser Nacht änderte meine Stadt ihr Gesicht.
Kieler vertrat am nächsten Tag die Meinung, dass nun das Schlimmste vorbei sei und dass man ruhig bleiben und abwarten müsse. Greti stimmte ihm natürlich zu. Lara, die resolute Verlobte meines Bruders, die mittlerweile auch bei uns wohnte, war dagegen der Ansicht, dass man dieses Land vielleicht doch besser verlassen sollte, so wie es ihre Schwester getan hatte, und sich um eine Ausreise nach England oder Amerika bemühen sollte.
Kieler wollte von England oder Amerika nichts wissen. Er hoffte auf den Tag, an dem die Deutschen samt ihrem Führer wieder Vernunft annehmen würden. Auf den Tag, an dem er wieder ein angesehener Arzt sein würde.
»Wir werden sehen«, sagte Edda und ging zurück auf ihren Dachboden. Ich folgte ihr. Gemeinsam betrachteten wir unsere Wand und tranken ein Glas Asbach auf
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