Adieu, Sir Merivel
den vergangenen anderthalb Jahren meine eigene Geschichte weiter aufgeschrieben hatte und dieses Niederschreiben mich häufig beruhigt, meine Melancholie gedämpft und mich gelegentlich sogar erheitert hatte, war mir doch durchaus bewusst, dass mein Leben bei all seiner Besonderheit nicht bedeutend genug war, um dieser Aufgabe einen wirklichen Sinn zu verleihen.
Was ich für mich zu finden gewünscht hätte, war ein Thema – wie etwa Sir James Prideaux’ Traktat über die Armen in England –, das meine ganze Aufmerksamkeit verlangte. Dann würde ich ein Werk von echtem Rang schreiben, welches mir schließlich einen großartigen Auftritt in der Royal Society verschaffen müsste, deren Mitglieder mich ebenso sehr mit Bewunderung wie mit Neid erfüllten.
Das waren keine trivialen Spekulationen, sondern Überlegungen der kühnsten Art, und sie führten mich zu einer bedeutungsschweren Frage. »Warum«, sagte ich zu mir, »warum sollte nicht ich, Robert Merivel, es sein, der die volle Kraft seines Verstandes der Frage nach einer Seele der Tiere widmet und dieses Thema weiter zu erforschen versucht?«
Warum eigentlich nicht? Warum nicht?
Ich wusste, dass schon viele über diese Frage nachgedacht hatten und dass ich mich nicht unwissend ans Werk machen konnte, nicht ohne vorher solche Untersuchungen sorgfältig zu studieren. Doch ich vermutete, dass viele dieser Untersuchungen in der wunderbaren Bibliothek von Baron de Saint Maurice zu finden und mir von daher in den kommenden Tagen und Wochen zugänglich sein würden.
Dass ich keine eigene ausformulierte Meinung zu dieser Frage hatte, beunruhigte mich ein wenig. Ich besaß bis jetzt noch keine Hypothese, geschweige denn eine Theorie. Doch mir fiel wieder ein, dass Pearce in Bezug auf die Anatomie (worin ich glänzte, er aber nicht) häufig zu mir gesagt hatte, das Begreifen sei notwendigerweise eine lange, beschwerliche Reise, und auf diese Reise habe man sich in Demut zu begeben. »Man kann nicht«, sagte er in einem bravourösen Schwenk komplizierter Pearce’scher Logik, »schon im Voraus die unendlich große Anzahl von Dingen wissen, die man nicht weiß.«
Was ich, wie ich wusste, besaß – und was viele andere Menschen nicht besaßen –, war eine große Verbundenheit mit Gottes Kreaturen. Vom Star, den ich schon als Kind sezierte, bis zu den Dachsen, die ich so gern im Wald von Vauxhall gefunden hätte; von der indischen Nachtigall, meiner großen Enttäuschung über dieses Geschenk und meinen Versuchen, ihr das Leben zu retten, bis hin zu dem reizenden Hündchen Minette, das in manchen Monaten des Ungemachs meine Gefährtin gewesen war. Und so ging es weiter bis zu Clarendon, meinem armen Bären, der mich den Preis eines unbezahlbaren Rings gekostet hatte und dessen Seele ich zu meiner hatte sprechen hören, als sie mich bat, freigelassen zu werden.
Könnte es nicht der Fall sein, so grübelte ich, dass diese Verbundenheit mir – obwohl ich mich nicht für einen Gelehrten hielt – dazu verhelfen würde, Erkenntnisse zu gewinnen, die trockeneren und kälteren Menschen verborgen blieben? Und könnte es nicht auch sein, dass mein Versuch einer Abhandlung mich nicht nur ein wenig mehr über Vögel und Bären und ihren Platz in der Welt, sondern auch etwas über meinen eigenen Platz und meine eigene Seele lehren würde? Und könnte mir das nicht die Möglichkeit schenken, die letzten Jahre meines Lebens in größerer Würde als bislang zu verbringen?
All diese Überlegungen versetzten mich in einen Zustand von großem Optimismus und großer Erregung. Das liebliche Geräusch des Sees, das Rufen der Eulen, das Seufzen des Windes in den Tannen – all das zusammen schien die perfekte Bühne für diese Aufgeregtheit meines Geistes zu bilden. Ich wusste, dass ich geradezu leidenschaftlich glücklich war. Fast hätte ich Lust gehabt, in die Bibliothek hinunterzugehen und mit der Suche nach Büchern zu beginnen. Und allzu gern hätte ich Margaret erzählt, dass ich endlich ein Thema gefunden hatte, welches mir absolut zusagte, und dass ich mich mit all der Begeisterung, deren ich, wie sie wusste, fähig war, auf dieses mein großartiges Vorhaben werfen würde.
Obwohl der Schlaf in undenkbare Ferne gerückt schien, spürte ich, wie sich, während der Mond unterging und die Nacht voranschritt, eine herrliche Ruhe meiner bemächtigte. Ich hatte meinen Plan, und ich sah, dass er gut war. Ich fühlte mich wie Gott, der seine Schöpfung betrachtete und sich selbst zu
Weitere Kostenlose Bücher