Adieu, Sir Merivel
John Pearce, in einem Quäker-Irrenhaus zu arbeiten. Doch Pearce starb …«
»Mon dieu, mon dieu, mon cher homme« , sagte Broussel und umfing mich mit seinen Armen. »Ich liebe diese Geschichte! Ach, wie gern würde ich eine Oper darüber komponieren. Könntet Ihr sie nicht für mich aufschreiben? Ich bin ständig auf der Suche nach Geschichten, und eine ähnlich gute habe ich bislang nicht gefunden.«
So empfänglich bin ich für diese Art von Schmeichelei, die mich in den Mittelpunkt von Ereignissen stellt, und so sehr verführte mich Marc-André Broussel mit seiner imposanten Gestalt, seinen wilden schwarzen Haaren und seinem Duft nach Nelken und Rosenöl, dass ich mich eilfertig zustimmen hörte.
Und dann rief er so laut, dass es keinem entgehen konnte: »Hört alle her! Sir Robert Merivel wird eine Geschichte für mich schreiben – seine eigene Geschichte! Und ich werde eine Oper über ihn komponieren. Ich werde ihn spielen ! Ich werde ihn musikalisch verkörpern!«
Damit zog er die Aufmerksamkeit der gesamten Gesellschaft auf sich, und allzu bald bedrängten mich alle, »meine Geschichte« zu erzählen. Indes, ich erkannte rasch, dass es eine Sache ist, sie dem großen Sänger privat und vertraulich zu erzählen, und eine gänzlich andere, sie den versammelten Gästen des Barons vorzutragen. Mir war bewusst, dass die Geschichte einiges an Pathos enthält, sie hätte mich aber auch leicht lüstern und närrisch erscheinen lassen können, und obwohl es mich selten störte, mich lächerlich zu machen, wollte ich es hier nicht herausfordern, nicht zuletzt deshalb, weil ich Louise nicht in Verlegenheit bringen mochte.
Als er mich zögern sah, erhob Broussel sich und erklärte mit einem dramatischen Schwenk seines Arms: »Wenn Sir Robert nicht möchte, werde ich sie erzählen. Es ist die Geschichte eines Mannes, dem das Paradies geschenkt wird. Ein Paradies wie das von Adam. Aber, wie Adam, verletzt er die einzige Regel, die er nicht verletzen darf. Und so verliert er wieder alles, was ihm gerade erst gewährt wurde. Was aber die Einzelheiten angeht, so werdet ihr warten müssen, bis ich meine Oper komponiert habe!«
Es folgte eine laute Empörung, und jemand rief: »Wie endet denn die Geschichte?«
Worauf Louise rasch sagte: »Das wissen wir nicht. Keiner von uns weiß, wie unsere Geschichten enden.«
Die Arbeit an meinen Betrachtungen schritt langsam voran. Ich hatte endlich Fabricius’ De brutorum loquela aufgeschlagen und fand dort eine sehr rührende Passage über Glucken und das Schlüpfen ihrer Küken, die mir, wenn meine Übersetzung aus dem Lateinischen korrekt war, bewies, dass der Meister davon überzeugt war, dass womöglich Liebe in den Herzen der Vögel wohnte, wie ich selbst es ja auch bei der Beobachtung des Sperlings auf der Wiese vermutet hatte, der den Verlust seines Gefährten betrauerte. Ich kopierte Folgendes aus Fabricius:
Das Küken im Ei, welches Luft benötigt, teilt seiner Mutter durch Tschilpen mit, es sei an der Zeit, die Schale zu zerbrechen, denn sein eigener Schnabel ist dafür zu schwach. Es sind jedoch genügend Raum und Luft vorhanden, die es dem Küken erlauben, laut genug zu tschilpen, um gehört zu werden, wie sowohl Plinius als auch Aristoteles bezeugen. Das Tschilpen hat möglicherweise einen flehenden Klang für sie (die Glucke), und wenn sie es hört und die Notwendigkeit begreift oder, wenn man so will, gern ihr Küken und geliebtes Kind sehen möchte, hackt sie die Schale auf.
Wenn ein Huhn mütterliche Liebe empfinden kann, wie Fabricius nahelegt, dann räumt er damit doch wohl die Möglichkeit ein, dass der Vogel eine Seele besitzt. Menschen, die unfähig zur Liebe erscheinen, nennen wir »herzlos« oder »seelenlos«. Wir sagen auch, wir fühlen Liebe in unserem Herzen, doch es ist nicht das Organ, das wir meinen (welches, wie Pearce und ich feststellten, absolut kein Gefühl besitzt), es ist die Seele.
Wir wissen nicht, wo genau in uns die Seele wohnt. Bei der Durchsicht eines Werks mit dem Titel Observations sur l’esprit humain (Betrachtungen über den menschlichen Geist) von einem französischen Schriftsteller namens JeanDuquesne las ich, dass man in Dänemark, zu Anfang dieses langen Jahrhunderts, glaubte, der Teufel stehle die Seele aus den Nasenlöchern ungetaufter Kinder.
Abergläubische Menschen stellten sich vor, der Satan fliege durch das geöffnete Fenster eines Kinderzimmers und nähere sich der kostbaren Wiege, greife dann mit einem
Weitere Kostenlose Bücher