Adieu, Sir Merivel
Richtung. In großer Ferne und immer noch durch manch gewundene Straße und eine wogende See von mir getrennt, liegt England.
Die Abenddämmerung sinkt herab, während unsere Kutsche sich Dijon nähert und leichter Schneefall einsetzt.
Nur zwei Reisende sitzen im Wagen, ich selbst und ein älterer englischer Priester. Er schreibt an Predigten, bis das Tageslicht erlischt. Da ich nichts zu lesen habe, habe ich mir seine Bibel erbeten, und ich stelle fest, dass dieses kostbare Buch fleckig und zerdrückt ist und sehr penetrant riecht, als hielte der Priester es jede Nacht an seinen Körper gepresst (oder bewahrte es, zusammen mit Bettwanzen und Mäusen, unter seiner Matratze auf, wie ich meinen Keil ).
Um mich aufzumuntern, lese ich die Geschichte vom Wunder von Kanaan; wie die geizigen Gastgeber nicht für genügend Wein sorgten, so dass der überarbeitete Jesus gezwungen ist, solchen aus bloßem Wasser herzustellen. Mich erstaunt nicht nur die Sparsamkeit der Gastgeber, sondern noch etwas anderes, was mich an dieser Geschichte schon immer irritiert hat.
Es wird dort in einer selbstgefälligen Art und Weise beschrieben, dass der beste Wein – jener, den Jesus aus Wasser machte – »bis zuletzt« aufgespart wurde. Und das erscheint mir als sehr töricht. Denn was den Wein anbelangt, so ist mir der Verlauf von Festlichkeiten nur allzu vertraut. Als ich in meinem früheren Leben auf Bidnold große Feste gab (und es waren derer viele), wies ich Will stets an, die besten Weine zuerst zu kredenzen, denn es war uns beiden vollkommenbewusst, dass Menschen, die so berauscht sind, wie es meine Gäste ausnahmslos wurden (und jene in Kanaan sicherlich ebenfalls), den einen Wein nicht mehr vom anderen unterscheiden können, ja nicht einmal mehr das eine Getränk vom anderen. Sie werden einfach, bis sie umfallen, alles dumpf hinunterstürzen, was man ihnen in die Hand drückt. Und in diesem Zustand wäre der »beste« Wein komplett an sie vergeudet. Der Heiland hätte genauso gut billigen oder gewöhnlichen Wein machen können, und ich dachte: Schade, dass ich nicht da war, um ihm dies mitzuteilen, falls das Wunder des guten Weins ihn größere Mühe gekostet haben sollte.
Ich blättere weiter zum nächsten Wunder, welches das der Auferstehung des Lazarus ist, doch auch dieses gefällt mir nicht besonders, da ich mit Besorgnis an den Gestank denke, den der Leichnam in der Hitze eines judäischen Nachmittags ausgeströmt haben mag, und ich wandere weiter und gerate zufällig ins Buch des Predigers Salomo, wo ich lese: »Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh.«
Der Tod geht mir viel im Kopf umher. Er zielte auf mich, doch er traf mich nicht.
Ich verließ die schneebedeckte Lichtung im Wald, Oberst de Flamanville tat es nicht. Er lag auf dem Boden, ins Herz getroffen von Beck. Das Blut sammelte sich über und unter ihm, hellrot und leuchtend. Beck kniete neben ihm nieder, weinte und küsste sein Gesicht, und seine schöne Uniform bekam rote Flecken. Und ich dachte, wie mutig dieser Capitaine doch war, dass er eine versteckte Waffe mit sich führte, um eine derartig traurige Pflicht zu erfüllen. Ich begriff sofort, dass er es aus Liebe zum Oberst getan hatte.
Ich gab ihm die Pistole zurück, mit der ich sehr weit an meinem Gegner vorbei geschossen und bedauerlicherweiseeine Taube getroffen hatte, die von einem weiß überzuckerten Zweig fiel. Ich schüttelte ihm sehr herzlich die Hand, dann gingen der Baron und ich zum Château zurück und überließen es dem trauernden Adjutanten, sich um die Leiche zu kümmern. Anfangs schwiegen wir, dann sagte der Baron: »Ihr wart mutig, Merivel. Es gab, wie ich erst jetzt erkenne, sogar ein gewisses Risiko, dass Ihr hättet sterben können.«
Fast hätte ich entgegnet, dass, so wie ich diese komplizierte und unklare Situation begriff, es sehr viel mehr als nur »ein gewisses Risiko« gab, doch ich tat es nicht. Ich wollte mein Gefühl der Erleichterung, dass ich noch am Leben war, nicht durch zynische Worte besudeln.
Wir liefen weiter. Die Sonne war vollständig aufgegangen und schien auf den Schnee. Von hoch oben blickten die mächtigen Berge zu uns herab, ungerührt, gleichgültig. Ich bemerkte in mir einen gewaltigen Durst nach Wein.
Endlich sagte der Baron: »Wir werden eine angemessene Zeit vergehen lassen. Dann werden wir Eure Hochzeit mit Louise vorbereiten. Ich
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