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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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zuständigen Dienstboten – für jeden einen Schilling und einen halben ergeben würde, wenn sie mich im Wagen mitfahren und unterwegs nach meinen Instrumenten suchen lassen würden.
    Hastig nahmen sie das Geld und schoben mich zu dem Gepäck hinein, und die Pferde fielen in einen lächerlich rumpelnden Trab über die eisigen Straßen.

35
    Ich weiß nicht, wo wir waren, als das Unglück geschah.
    Eben noch kniete ich auf dem Boden des Gefährts und suchte in der obersten Truhe zwischen Bündeln von silbernen Gabeln und einer Reihe schöner Sahnekrüge, Salz- und Pfefferstreuer und Weinflaschenuntersetzer nach meinen verschwundenen Instrumenten, da merkte ich, dass der Karren sich neigte wie eine Barke im Sturm.
    Ich hielt mich an beiden Seitenwänden fest, als könnte ich so gleichzeitig mich und den Karren wieder ins Gleichgewicht bringen, doch beides gelang nicht. Die schweren Truhen rutschten mir entgegen, und dann kippte alles seitwärts in den Rinnstein – Wagen, Pferd, Dienstboten, Merivel und das Gepäck – und lag einfach auf dem Boden, als wäre eine mächtige Welle über uns zusammengeschlagen.
    Ich merkte, wie mein Kopf auf die harte Straße knallte und dann irgendetwas Schweres auf meinen Knöchel fiel. Und das ist alles, woran ich mich erinnere.
    Ich erwachte ich einem kalten, düsteren Raum.
    Ein Gestank herrschte darin, so heftig, dass ich fast erbrochen hätte, und doch seltsam vertraut. Geräusche wie von gequälten Tieren um mich herum. Ich glaubte, ich sei im Zoo.
    Ich versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben, indem ich mir überlegte, welche Tierarten dieser Zoo wohl enthalten mochte.
    Ich stellte mir Straußen und Kamele, Hyänen und Krokodile vor. Ich hätte sehr gern das Tschilpen von jungen Vögeln gehört, da ich mir einbildete, diese Töne, die den Klang desFrühlings und des wiederkehrenden Lebens verkörperten, könnten mich trösten.
    »Piep-piep, piep-piep … kommt zu mir, ihr süßen Federbällchen …«, murmelte ich.
    Dann wurde ich erneut verschlungen, wie Jonas vom Walfisch, und versank in einem Bauch von Dunkelheit und Leere.
    Als ich das nächste Mal wieder zur Besinnung kam, beugte sich eine alte Frau in einem blauen Kleid über mich und zog meine Lider hoch, um mir in die Augen zu sehen. Dann wanderten ihre Hände zu meinem Kopf hinauf und machten da irgendetwas, und plötzlich spürte ich einen furchtbaren Schmerz in meinem Schädel und eine fast unerträgliche Trockenheit in meinem Hals.
    Der Zoo um mich herum lärmte immer noch sehr laut. Ich glaubte, Löwen und Affen zu hören und dazu das entsetzlich eintönige Kreischen eines Pfaus.
    »Welcher Zoo ist das hier?«, brachte ich mühsam hervor.
    »Zoo!«, erwiderte die blau gewandete Alte. »Gnädiger Gott! Haltet Euch still und sprecht nicht.«
    Ich packte ihren Arm. »An welchem Ort bin ich?«, fragte ich.
    Jetzt blickte sie mich freundlicher an. Sie war alt und arm, hatte das Haar auf unkleidsame Weise zu einem allzu straffen Knoten mitten auf dem Kopf gebunden, aber in ihren Augen lag ein Anschein von Herzlichkeit. »Ihr befindet euch im St. Thomas-Hospital«, antwortete sie, »und Ihr könnt froh sein, dass Ihr noch lebt. Ihr lagt hilflos auf der Straße, als man Euch fand.«
    St. Thomas-Hospital.
    Ich war nicht mehr in dieser elenden Institution gewesen, seit ich zusammen mit Pearce viele Stunden dort gearbeitet hatte, um nach unseren anatomischen Studien in Cambridge das ärztliche Handwerk zu erlernen. Und nie hätte ich geglaubt, dass ich jemals Patient im St. Thomas sein würde,weil es ein Hospital für die Armen ist, und ich hatte meinem Schicksal vertraut, dass ich niemals arm genug sein würde, um dort aufgenommen zu werden. Doch da war ich nun.
    Ich drehte meinen schmerzenden Kopf, blickte mich um und sah, dass ich tatsächlich auf einer dünnen Matratze in einem hölzernen Bett lag, zusammen mit zahllosen Sterblichen in sehr traurigem Zustand, die neben mir in einem stinkenden Krankensaal aufgereiht waren.
    Die Luft in dem Raum war feucht, als dringe niemals ein einziger Sonnenstrahl herein. Auf dem steinernen Fußboden war eine große Menge Stroh verteilt worden, das mittlerweile jedoch, wie in einem Kuhstall, mit vielen Exkrementen durchmischt war. Die Tiergeräusche kamen aus den Mündern und Ärschen der Kranken, die hier zusammengesperrt waren, unter dünnen Decken lagen oder, wie verhungernde Hunde, umherkrochen und greinten und sich die Zeit damit vertrieben, zu furzen und in Blechschüsseln zu

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