Adieu, Sir Merivel
den Ärmsten der Armen verachtet werden und dass Letztere es sicher gern sähen, wenn wir geköpft und unsere aufgespießten Häupter auf der London Bridge ausgestellt würden.
Beobachtet von dem verschorften Mann, der jetzt wieder wach war und sich überall kratzte und die verdorbene Luft durch den Mund einatmete, schaffte ich die wenigen Schritte bis ans Ende meines Betts. Dort bückte ich mich und spähtedarunter, in der Hoffnung, mein Hemd, meinen Rock und meine Hosen zu entdecken, doch alles, was ich fand, war ein kleines Nest aus Stroh und darin, schon seit geraumer Zeit in Leichenstarre übergegangen, eine tote Katze.
Dieser Anblick war so eindrücklich und so schaurig, dass ich augenblicklich an all die toten Wesen denken musste, die Pearce und ich während unserer Zeit hier in St. Thomas gefunden und an denen wir uns gelegentlich in anatomischem Sezieren geübt hatten.
Zahllose Mäuse und Ratten, aber auch Hunde, Eichhörnchen, Füchse und Sperlinge waren darunter gewesen. In dem Operationssaal, wo die Steine herausoperiert wurden, stießen wir einmal auf eine tote Seemöwe, und im Abtritt auf einen toten Affen, der in das samtene Röckchen eines Quacksalbers gekleidet war. Die menschlichen Toten, die auf Karren zu den Gemeindegräbern gefahren wurden, hatten wir aufgehört zu zählen. Viele dieser Leben hatten wir zu retten versucht, aber weder das Wissen noch die Mittel dazu besessen, und sehr häufig hatten wir unseren Beruf wegen all seiner Mängel und unserer Misserfolge verflucht. Der Tod hatte Pearce, der seine eigene Mutter zu retten versucht hatte und gescheitert war, stets zornig gemacht.
Da meine Schmerzen in Bein und Kopf sehr heftig waren, ließ ich mich jetzt auf mein Bett sinken und überlegte, was ich tun sollte, so verletzt wie ich war, und dazu noch beinahe nackt. Und in dem Moment hörte ich ein neues Geräusch, und das war das Läuten einer Glocke.
Ich hob den Kopf und versuchte, aus dem schmutzigen Fenster zu schauen, aber es war zu hoch, und alles, was ich erblicken konnte, war der Himmel, der nach dem Schnee, den wir erlebt hatten, nun beinahe geisterhaft leuchtete, so wie Lampenlicht, das durch ein Baumwolltuch scheint, denn lauter Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben; und aus mir unbekannten Gründen stürzte dieser Anblick mich in eine tiefe Melancholie.
Ich legte mich wieder hin, denn ich hatte beschlossen, dass ich noch nicht kräftig genug war, um mich irgendwohin zu begeben, und hoffte nur, dass ich so lange schlafen konnte, bis ich mich etwas stärker fühlte und in der Lage war, Margaret eine Nachricht zu schicken. Die Tatsache, dass meine Nasenlöcher jetzt kaum mehr als einen halben Meter vom Leichnam der Katze entfernt waren, beunruhigte mich ein wenig, doch es gab kein anderes Bett; alle waren belegt.
Also schloss ich die Augen und hoffte, etwas Schönes und Belebendes zu träumen, und sank wohl auch in ein vorübergehendes Vergessen, bis ich merkte, dass das Glockengeläut sich verändert hatte und zu einem mächtigen, klangvollen Lärm geworden war. Und da begriff ich, dass nicht nur eine, sondern viele, sehr viele Glocken zu läuten begonnen hatten, dann noch mehr und immer noch mehr, bis die Luft ganz Londons von einem schrecklichen, endlosen Getöse zerrissen zu werden schien.
Ich lag, mit offenen Augen, sehr still da. Dann flüsterte ich es deutlich vor mich hin: »Der König ist tot.«
Ich hatte nichts, woran ich mich festhalten konnte, nur meine Decke und mein Strohkissen.
Ich drückte mein Gesicht in das Kissen und legte die Arme um meinen Kopf, um das Geräusch der Glocken zu dämpfen. Das Stroh wurde von meinen Tränen so feucht, dass aus der trockenen, leblosen Materie wieder etwas Pflanzliches wurde, das zu stinken begann.
Allmählich kehrte wieder Stille in den Saal ein, und die armen Kranken von St. Thomas schlichen verwirrt umher, denn sie wussten, was die Glocken verkündeten, wollten es aber noch nicht glauben, denn in seiner Bedeutsamkeit überstieg es ihre Vorstellungskraft. Ich sah nicht zu den leidenden Menschen, vernahm aber wohl die schlurfenden Schritte im Raum, als alle, die sich bewegen konnten, zu den Fenstern schlichen, so als könnte, wer die läutenden Glocken sah , begreifen, was wir unter dem neuen Monarchen,James, Herzog von York, demnächst in England zu erwarten hatten.
Ich legte die Arme noch fester um den Kopf. Ich rief den König. Ich erklärte ihm, es tue mir leid. Ich sagte, ich hätte mir so sehr gewünscht, in
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