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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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aber mein Rock, und ich warf ihn rasch über.
    »Schnell, Merivel!«, sagte Louise. »Er darf es nicht erfahren! Er darf es nicht erfahren!«
    Ich warf ihr eine Kusshand zu und eilte zur Tür. Ich horchte einen Moment, konnte jedoch im Korridor nichts hören, also huschte ich, so leise ich vermochte, hinaus und eilte, die gelassene Flinkheit einer Ratte imitierend, zu meinem Zimmer.
    Wie lächerlich ich in dem nicht zugeknöpften Rock, mit den nackten Beinen und den von meiner vergangenen Anstrengung noch feuchten, zerzausten Haaren aussehen musste, begriff ich erst, als ich wieder sicher in meinem Zimmer war und mich in dem großen Spiegel erblickte. Ich nahm mir jedoch nicht die Zeit, in Ruhe über mein Bild nachzudenken.
    Ich schleuderte meinen Rock fort, versteckte mich, nackt und kalt, unter meiner Decke und gab vor zu schlafen. Jetzt konnte ich auch zahlreiche Füße auf der Treppe hören: Bedienstete, die in den letzten Minuten der Nacht aufgewacht waren und nun ihrem Meister entgegeneilten, dessen laute Schritte schon bald auf den Steinplatten der Diele zu hören waren.
    Zu meiner großen Erleichterung führten diese Schritte nicht zur Treppe, sondern zur Salle à Manger , wo Oberst Jacques-Adolphe de Flamanville nun nach seinem Frühstück rief.

9
    Zum Glück für mich und für Louise teilte Oberst de Flamanville schon seit langer Zeit nicht mehr das Zimmer mit seiner Gemahlin. Nachdem er sein Frühstück eingenommen und die Treppe hinaufgestiegen war, ging er direkt zum Zimmer seiner Schwester und ersparte sich so den Anblick von Louises zerwühltem Bett, das unmissverständlich nach meiner Anwesenheit roch.
    Tatsächlich suchte er seine Gemahlin nicht auf, und so konnte sie sich waschen und ankleiden und, frisch und gefasst, um neun Uhr zu ihrem eigenen Morgenmahl in die Salle à Manger hinunterbegeben.
    Auch mir gelang es, mich ordentlich herzurichten, so dass kein Hauch von Louises Parfüm mehr an mir haftete. Ich seifte und trocknete sogar mein Haupt ab und rasierte mein Gesicht. Nur mein linkes, sehr rotes Ohrläppchen, in das Louise gebissen hatte, legte ein mögliches Fehlverhalten unter de Flamanvilles Dach nahe, doch das verbarg meine Perücke, so dass ich alles in allem das Bild eines unschuldigen Gastes bot, der eine keusche Nacht verbracht und sich, erfrischt vom Schlaf, recht früh erhoben hatte.
    Allerdings litt ich grässlichen Hunger und verzehrte innerhalb kürzester Zeit nicht weniger als vier Lammkoteletts, einige pochierte Eier und trank drei Schalen Schokolade.
    Als ich sah, wie Louise darüber lächelte, sagte ich: »Meinen Diener in Norfolk, Will Gates, hat meine Schlemmerei stets belustigt. Er ist der Ansicht, es schade meinem Herzen.«
    »Oh«, sagte Louise, »ich hoffe doch sehr, dass das nicht zutrifft.«
    Und gerade als mein Rüssel wieder in der heißen Schokolade steckte, betrat Oberst de Flamanville den Raum.
    Wie vermutlich viele Militärs war de Flamanville ein hochgewachsener Mann von äußerst aufrechter Haltung. Selbst den Kopf trug er grimmig hoch, als wollte er ständig seinen Hals dehnen. Zusammen mit seiner langen Nase verlieh ihm dies eine Art hochfahrender Souveränität, die es ihm, wie ich mutmaßte, leicht machte, solchen Personen seinen Willen aufzuzwingen, die er für unterlegen hielt, so wie mich.
    Dennoch gab es etwas in seinem Verhalten, das mich – ich konnte nicht anders – an eine Giraffe erinnerte, weshalb ich nun – ungeachtet all dessen, was ich heimlich getan hatte und was nur sein äußerstes Missvergnügen erregen konnte – feststellte, dass ich nicht die geringste Furcht vor ihm verspürte.
    Er ließ sich am Tisch nieder und fragte Louise, wie wir die Zeit nach unserem Aufbruch von Versailles verbracht hätten. Ich setzte die Trinkschale ab und wischte mir übers Gesicht. Louise blieb sehr ruhig und sagte: »Wir haben vor allem in meinem Laboratorium gearbeitet, mon chéri. Sie erinnern sich, dass Sir Robert Merivel ein Doktor der Medizin ist? Was er über meine Präparate weiß, ist beeindruckend.«
    »Ach«, sagte de Flamanville, »das wusste ich nicht. Ein Doktor? Ihr seht gar nicht aus wie ein Doktor. Steht Ihr in Monsieur Fagons Diensten?«
    »Monsieur Fagon?«
    »Der Arzt des Königs. Ihr kennt ihn nicht?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich kam aus England mit einem Schreiben des Königs, für den ich sehr viele Jahre arbeitete. Er empfiehlt mich für einen medizinischen Posten im Umkreis Seiner Majestät. Unglücklicherweise –«
    »Sie

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