Adiós Hemingway
abzugewöhnen, in der Sprache der Ojibwa-Indianer von Michigan zu fluchen. Und sie bat ihn inständig, nicht die Hautschuppen mit den Fingernägeln von der Nase zu kratzen. Doch all ihre Bemühungen waren erfolglos geblieben, denn er wollte unbedingt schockieren und provozieren, um eine weitere Barriere zwischen seiner illustren Person und den übrigen Sterblichen zu errichten. Das Abkratzen der Schuppen allerdings war nicht eine der üblichen Posen. Das Verlangen nach diesem zweifelhaften Vergnügen kam aus dem Unterbewussten, und darum konnte es ihn jederzeit und an jedem Ort überkommen.
Sein Lieblingsargument war: Es habe ihn so viele Verluste und Schmerzen, einige davon sogar unbeabsichtigt, gekostet, bis er in der ganzen Welt wegen seiner Großtaten und Unverschämtheiten bekannt war, sodass es sich nicht lohne, jetzt noch mit dem höflichen Benehmen anzufangen, das er so sehr verachtete. Fast dreihundert Narben wies sein Körper auf – mehr als zweihundert stammten von einer Granate, die ihn in Fossalta getroffen hatte, als er einen verwundeten Soldaten auf den Schultern trug. Über jede einzelne konnte er eine spannende Geschichte erzählen, wobei er selbst oft nicht wusste, ob sie wahr oder erfunden war. Als er sich einmal den Kopf schor, sah sein Schädel aus wie eine von Erdbeben und Vulkanausbrüchen gezeichnete Landkarte des Schreckens. Unter all den Narben fehlte ihm nur eine, die er gerne zur Schau gestellt hätte: die vom Hornstoß eines Kampfstieres, von einer cornada, der er tatsächlich zweimal nur knapp entgangen war.
Nein, in diese Richtung hätte er seine Gedanken nicht lenken sollen. Wenn er sich an eines nicht erinnern wollte, dann an Stierkämpfe und damit an die Arbeit, die ihn zurzeit beschäftigte. Diese verfluchte Überarbeitung von Tod am Nachmittag, die einfach nicht richtig in Fluss kommen wollte! Ihn ergriff eine quälende Sehnsucht nach jener trunkenen Zeit, in der ihm alles leicht von der Hand gegangen war, sodass er sich als Schöpfer und Herr über Wald und Feld gefühlt hatte … Zwischen den Bäumen umherlaufen, auf die Lichtung hinaustreten, einen Hügel hochsteigen, die Bergrücken auf der anderen Seite des Sees entdecken. Einen Arm unter den schweißfeuchten Gurt des Rucksacks schieben, den anderen unter den anderen Gurt, um so das Gewicht zu verlagern und den Rücken zu entlasten. Dann zum See hinuntergehen, die Kiefernnadeln unter den Sohlen der Mokassins spüren …
Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust stand er auf. Es musste bereits nach elf sein. Zeit, die Runde zu machen. Der Wein tat seine befreiende Wirkung und beschwor, heimtückisch wie immer, Erinnerungen herauf. Er ging zur Tür und öffnete sie. Auf dem Teppich in der Eingangshalle lag Black Dog, das treue Tier, und wartete auf ihn.
»Du hast nichts gefressen, hab ich gehört … Das kann ich aber kaum glauben«, sagte er zu dem Tier, das erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelte. Seit jenem Tag vor mehr als dreizehn Jahren, als er ihn als jungen Straßenköter mit gekräuseltem schwarzem – inzwischen grau meliertem – Fell in Cojimar aufgelesen hatte, war ihm der Hund in treuer Ergebenheit, ja in Liebe verbunden, und sein Herrchen zog ihn allen anderen Hunden der Finca vor. »Los, komm, das wollen wir doch mal sehen …«
Black Dog schien der Einladung nicht zu trauen. Miss Mary ließ die Hunde nicht ins Haus, wogegen einige der Katzen durchaus zu den invited visitors gehörten.
»Los, komm schon rein, das blöde Weib ist nicht da …«
Ermunternd schnippte er mit den Fingern. Zuerst schüchtern, dann immer forscher folgte der Hund ihm in die Küche. Er nahm das Messer und säbelte mehrere Scheiben von dem Serrano-Schinken ab, der in einem Gestell befestigt war. Er wusste, dass Black Dog dem Serrano-Schinken nicht widerstehen konnte. Er warf Scheibe um Scheibe in die Luft, und der Hund schnappte eine nach der anderen auf und verschlang sie fast ohne zu kauen.
»Donnerwetter, der alte Black Dog schnappt sich seine Beute immer noch in der Luft! Jetzt fühlen wir uns schon besser, was? … Ja, ja, wir gehen gleich los.«
Er ging ins Badezimmer, stellte sich vor die Kloschüssel und knöpfte seine Hose auf. Der Urinstrahl ließ auf sich warten, und als er endlich floss, hatte der Mann das Gefühl, dass er heißen Sand pisste. Nachlässig schüttelte er die letzten Tropfen ab, steckte das schlaffe Glied wieder in die Hose und ging in sein Arbeitszimmer. Aus der obersten Schreibtischschublade, in der
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