Adiós Hemingway
intelligenter Mensch und wissen, wie schwer ein Mord wiegt.«
»Ja«, sagte Ruperto, und jetzt endlich nahm er die Zigarre aus dem Mund. Er spuckte bräunlichen Schleim aus, der über die ausgetrocknete Erde rollte.
»Von den engeren Vertrauten auf der Finca, wer ist da noch am Leben?«
»Soweit ich weiß, nur Toribio und ich. Ach ja, und der Spanier Ferrer, sein Arzt und Freund. Aber der lebt in Spanien. Ist zurückgegangen, als Franco tot war.«
»Und Calixto, das Faktotum?«
»Der muss auch schon tot sein. War älter als ich … Aber nachdem er von der Finca weg war, hab ich nie mehr was von ihm gehört.«
El Conde zündete sich eine Zigarette an und blickte aufs Meer. Sogar unter dem Mandelbaum war schon jetzt die Hitze zu spüren, die im Laufe des Tages mörderisch zu werden drohte. »Ist Calixto gegangen, oder hat Hemingway ihn rausgeschmissen?«
»Nein, er ist gegangen.«
»Und warum ist er gegangen?«
»Das weiß ich nun wirklich nicht.«
»Aber Sie kennen doch seine Geschichte, oder?«
»Nur das, was so erzählt wurde. Dass er einen Mord auf dem Gewissen hatte.«
»Und Hemingway hat ihm vertraut?«
»Ich glaube, ja. Sie waren ja schon befreundet, bevor das mit dem Mord passiert ist.«
»Und niemand weiß, wohin Calixto verschwunden ist, nachdem er die Finca verlassen hatte? Er hat doch bestimmt gut verdient …«
»Hab mal gehört, dass er nach Mexiko gegangen sein soll. Von Mexiko hat er immer sehr geschwärmt.«
El Conde prägte sich diese Information gut ein. Wenn das stimmte, konnte sie sehr wichtig werden. »So weit weg?«, hakte er nach. »Ist er vielleicht vor etwas davongelaufen?«
»Keine Ahnung.«
»Aber Sie wissen doch bestimmt, wann er die Finca verlassen hat?«
Ruperto dachte eine Weile nach. El Conde sah ihm an, dass er das Datum wusste, aber möglicherweise kompliziertere, vielleicht heikle Rechnungen anstellte. Schließlich antwortete der Alte: »Wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt, dann war das Anfang Oktober 58. Wenige Tage später ist Papa nämlich in die Vereinigten Staaten geflogen, zu Miss Mary.«
»Und was wissen Sie noch darüber?«
»Nichts. Was soll ich denn darüber wissen?«, erwiderte er barsch. El Conde spürte, dass er ihn in die Enge getrieben hatte.
»Ruperto …«, begann er wieder, schwieg dann aber. Er rauchte und legte sich seine Worte zurecht. »Gibt es sonst nichts mehr, was Sie mir zu sagen haben? Was mir helfen könnte herauszufinden, wer der Tote auf der Finca Vigía war und wer ihn ermordet hat?«
Der Alte, jetzt wieder mit der Zigarre im Mund, sah ihm direkt in die Augen. »Nein.«
»Schade«, sagte El Conde. Als er aufstand, spürte er, wie seine rostig gewordenen Knie knackten. »Na schön, dann sagen Sie eben nichts. Aber ich weiß, dass Sie etwas wissen. Auch wenn ich ein alter Blödmann bin, weiß ich, das Sie etwas wissen … Hören Sie, Ruperto, Ihr Hut gefällt mir wirklich sehr.«
El Conde wusste nur zu gut, was nun in ihm vorging: Die vorgefassten Meinungen brannten wie Stacheln an den Händen, und die Tatsachen lagen – ebenfalls wie Stacheln – schwer verdaulich im Magen. Und wie aus einem Samen, der auf fruchtbaren Boden fällt, spross aus beidem, Vorurteilen und Tatsachen, nach und nach die schmerzhafte Vorahnung. El Conde war nun überzeugt davon, dass zwischen dem Schriftsteller Ernest Hemingway und seinem alten Freund Calixto Montenegro, dem ehemaligen Alkoholschmuggler, verurteilten Mörder und späteren Angestellten auf der Finca Vigía, in den Jahren 1946 bis Oktober 1958 eine geheime Verbindung bestanden haben musste, außerhalb des Netzes aus Abhängigkeit und Dankbarkeit, das der Schriftsteller zu seinem übrigen Personal zu spinnen gewusst hatte. Während er, von der Vision eines doppelten Rums geleitet, nach Cojimar hineinging, verfestigte sich diese Überzeugung, die ihm fast körperlich wehtat. Das Gefühl überraschte ihn. Eine glühend heiße, aggressive Wunde, deren Schmerz El Conde in vollen Zügen genoss, umso mehr, als er ihn acht Jahre lang nicht mehr gespürt hatte. Endlich war er wieder da, tief in seiner Brust, wie ein scharfer, spitzer Dolch, mit dem Stiere getötet werden. Es war eine der köstlichsten Vorahnungen, die er jemals gehabt hatte, denn ihr Ursprung war rein literarischer Natur.
Mit zwei entschieden geführten Attacken besiegelte er das Schicksal des doppelten Rums. Bevor er sich auf die Suche nach einem Bus in Richtung Havanna machte, fand er wie durch ein Wunder an einem
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