Adiós Hemingway
des alten Patriarchen mit grauem Vollbart und grauem Haar, offenbar bereits sehr geschwächt, dem schmuddligen Weihnachtsmann so ähnlich, den der kleine Mario in der Bucht von Cojimar ganz nah an sich hatte vorbeigehen sehen. Auf allen diesen Fotos sah Hemingway menschlicher aus, als El Conde ihn sich vorgestellt hatte. Doch erst die dritte Biografie streute Salz in die Wunde. Dem Autor zufolge hatte Hemingway Anfang Oktober 1958 die Arbeit an Der Garten Eden unterbrochen, jener alten, unbefriedigenden Erzählung, die er in den Vierzigerjahren begonnen hatte und jetzt zum Roman umarbeiten wollte. Am 4. Oktober war er in die Vereinigten Staaten geflogen, um sich dort mit seiner Frau Mary zu treffen und den Kauf des Grundstücks in Ketchum abzuschließen, wo sein letztes Haus gebaut werden sollte. Die Stunde der Vorahnung schlug, die Glocken läuteten Sturm.
Zwei der kritischen Essays waren vor 1986 erschienen, als die endgültige Fassung von Der Garten Eden noch nicht publiziert war, und erwähnten das Manuskript nur am Rande. Der dritte sprach über das Buch, gab aber lediglich an, dass es 1946 in Paris begonnen und 1958 in Havanna beendet worden war, als der Schriftsteller die Überarbeitung und Erweiterung von Tod am Nachmittag zurückgestellt hatte, weil er vorher noch eine weitere Stierkampfsaison in Spanien miterleben wollte. Nach den Worten des Verfassers waren das schwierige Monate für Hemingway. Seine Krankheiten fingen an, ihn zu beeinträchtigen, und das Schreiben wurde mühsam, fast qualvoll.
Der letzte Essay endlich ließ El Conde vor Aufregung zittern. Der Autor hatte die von Mary Hemingway aus Kuba in die Vereinigten Staaten gebrachten Manuskripte durchgesehen und festgestellt, dass auf der letzten Seite des noch unveröffentlichten Romans Ort und Datum notiert waren: Havanna, 2. Oktober 58. Dazu eine handschriftliche, inzwischen fast unleserliche Anmerkung des Schriftstellers. Wieder läuteten die Glocken der Vorahnung Sturm …
Als El Conde wieder auftauchte und zu sich kam, sah er auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits fünf nach zwei war. In gestrecktem Galopp brachte er die Bücher zurück, bedankte sich bei der Bibliothekarin und eilte zum Ausgang. Ein junger Mann in Zivil wienerte die Windschutzscheibe eines Autos, das in der unbarmherzigen Mittagssonne funkelte, während die Antenne des Polizeifunks ihren anklagenden Finger gen Himmel reckte.
»Ich bin Mario Conde«, sagte er zu ihm.
»Ich wollte gerade abhauen«, erwiderte der Junge.
»Dann mal los.«
Er sei der Chauffeur von Teniente Palacios, klärte ihn der junge Polizist in Zivil auf und fuhr los. Sogleich wurde Mario klar, warum Manolo gerade diesen Milchreisbubi zu seinem Chauffeur auserkoren hatte: Er war der automobilistische Klon des Teniente, wahrscheinlich in einem Speziallabor hergestellt. Der Junge brachte es nicht nur fertig, in brütender Mittagshitze den Dienstwagen auf Hochglanz zu polieren, sondern auch, die Strecke von der Nationalbibliothek zur Finca Vigía in knapp zwanzig Minuten zu schaffen. Und jede einzelne von ihnen erlebte El Conde wie seine Todesstunde und sah schon den letzten Tag eines vergeudeten Lebens gekommen.
»Haben wirs eilig?«, wagte er zu fragen, als der Chauffeur sich mit Hupen und Schreien den Weg durch den Kreisverkehr der Fuente Luminosa zu bahnen versuchte.
»Weiß nicht, aber könnte ja sein«, erwiderte der Verrückte und gab Gas. Als El Conde auf dem Parkplatz der Finca Vigía aus dem Wagen kletterte, zitterten ihm die Knie. Seine ausgetrocknete Kehle brannte wie Feuer. Er lehnte sich einen Moment lang gegen die Karosserie und wartete darauf, dass sich sein Herz beruhigte und seine Muskeln entspannten. Er sah zu dem rasenden Polizisten hinüber, und in seinem Blick lag Hass, nichts als Hass.
»Deine Mutter hätte dich besser abtreiben sollen«, sagte er mit einer Stimme, die aus tiefster Seele kam, und begab sich zu den Büros der Museumsverwaltung.
Er beschloss, über die asphaltierte Autozufahrt zum Haus zurückzugehen. Die war zwar dreimal länger als der Weg durch das Kasuarinenwäldchen, das wusste er, aber sie stieg nicht so stark an. Außerdem hatte er es nicht eilig. Der Wein und der Fund der FBI-Marke hatten seine Müdigkeit verscheucht, und er wusste jetzt schon, dass er wenig und schlecht schlafen würde, wie so oft in letzter Zeit. Black Dog lief neben ihm her, genauso schleppend wie sein Herrchen, ohne zu bellen und ohne in das Wäldchen abzuhauen.
Als er die
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