Adler und Engel (German Edition)
für eine ausführliche Berichterstattung reicht es nirgends. Auch inmitten einer Menschenmenge würde ich Arkan jederzeit erkennen. Portraits von ihm hatte ich in der Fahndungsakte des Internationalen Tribunals in Den Haag gefunden, und ich studierte seine Züge wie Schriftzeichen einer fremden Sprache, die es zu entziffern gilt. Wahrscheinlich suchte ich eine Antwort.
Jedenfalls kann die Zeitung nicht hier bleiben. Mir fällt spontan niemand ein, den ich mehr hasse als Arkan. Nicht mal mich selbst.
Ich fasse die Seite mit spitzen Fingern, und obwohl ich wirklich nicht vorhatte, hier sauber zu machen, trage ich sie in die Küche und wische den Kaffee am Boden damit auf. Währenddessen denke ich darüber nach, ob es Zufall sein kann, dass die Zeitung auf Claras Schreibtisch herumliegt, aufgeschlagen bei ausgerechnet diesem Artikel. Als das Papier ganz durchtränkt ist, werfe ich es in den Müll, wasche mir die Hände und kehre ins Wohnzimmer zurück.
Zwischen Glastisch und blaue Couch setze ich mich auf den Boden und baue das DAT-Gerät dicht vor meinem Gesicht auf. Jacques Chirac legt sich neben mich, klopft zweimal seinen langen dünnen Schwanz auf den Boden und klappt die Schenkel auseinander, damit ich ihn am Bauch kraulen kann.
Ein paar Mal drehe ich den Recorder hin und her, dann weiß ich, wie er funktioniert. Eine frische Kassette ist eingelegt, vorsorglich hat sie noch zwei originalverpackte dazugetan. Unter dem Recorder habe ich einen Zettel gefunden, ein einziger Satz steht darauf in derselben krakeligen Schrift wie auf den bpm -Zetteln: »Wie ich sie zum ersten Mal sah«.
Ich drücke die Aufnahmetaste.
Sah, sah, lalle ich, sah.
Als wäre an diesem Wort etwas Besonderes, im Gegenteil, es ist unsinnig, ein völlig lächerliches Wort, eigentlich ohne Bedeutung, mehr ein Geräusch. Mir fällt nichts ein, deshalb drücke ich auf Stop und spule zurück.
Sah, sah, lallt der Recorder, sah.
Es klingt schrecklich, ein Säugling bei den ersten Sprechversuchen, sa-sa-sa. Natürlich kenne ich meine Stimme vom Band, beim Diktieren habe ich sie täglich gehört. Trotzdem ist es immer wieder ein Schock, sie außerhalb meines Kopfs wahrzunehmen. Sie ist zäh, unartikuliert und unterschwellig aggressiv. Ich spule noch einmal. Menschen mit einer solchen Stimme verabscheue ich instinktiv. Sie sind roh, stillos, ungebildet, auf eine plumpe Art gefährlich. Ich drücke die Aufnahmetaste.
Wie ich sie zum ersten Mal sah, sage ich.
6 Von Zugvögeln
S ie saß auf einem Schreibtisch, einem dieser viel zu kleinen, abgenutzten Kinderzimmerschreibtische. Solche hatten wir alle im Internat.
Was hat das damit zu tun. Andererseits, was hat irgendwas mit irgendwas zu tun. Ich lasse das Band laufen, während ich mir eine Zigarette anstecke.
Der Schreibtisch, auf dem Jessie saß, gehörte Shershah. Jessie trug einen langen grünen Rock aus verwaschener Baumwolle und keine Schuhe. Ihre Haare waren kurz und gelb und standen in alle Richtungen ab. Gleich auf den ersten Blick erinnerte mich ihre Frisur an Sonnenstrahlen. Sie saß in so krummer Haltung, dass man ihr sofort »Sitz gerade« zurufen wollte.
Das gefällt mir. »Sitz gerade« trifft das ganze Bild, es passt zu Jessie von Anfang an und bis zu ihrem letzten, achtundzwanzigsten Lebensjahr. Ich lächele und asche auf Claras Teppich, so dass es ihm die Haarspitzen versengt. Der Geruch von verbranntem Plastik steigt auf.
Sie muss dreizehn gewesen sein. Es war in den ersten Wochen des Schuljahrs, und wir waren alle neu. Shershah hatte keine Lust mehr, seinem persischen Diplomatenvater durch die Weltgeschichte zu folgen. Ich hatte keine Lust mehr, mich von meiner Mutter in Heimen für Essgestörte unterbringen zu lassen, wo außer mir fast nur Mädchen waren. Wo Jessie herkam und worauf sie keine Lust hatte, wusste ich nicht. Sie sah ein bisschen verloren aus. Wir sahen alle ein bisschen verloren aus, wie Zugvögel, die den Anschluss verpasst haben und nicht mehr wissen, wo Süden ist.
Jessie saß auf dem Schreibtisch, rauchte, und neben ihr lag ein ganzes Bündel selbstgedrehter Zigaretten. Das Drehen beherrschte sie noch nicht selbst, Shershah hatte ihr einen Vorrat angelegt. Er stellte uns vor.
Die da ist Jessie, sagte er, der da ist Max.
Er hatte nichts von ihr erzählt, ich wusste nicht, wie er sie kennengelernt hatte. Sie ging nicht in unsere Klasse, sie war fünf Jahre jünger als ich.
In welchem Haus bist du untergebracht, fragte ich.
Shershah antwortete für
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