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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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schämte sich, ihn gezeugt zu haben, und schickte kein Geld. Aber Shershah fehlte nichts. Er trug ohnehin nur die eine schwarze, speckig geriebene Jeans, die eng genug war, dass man darunter seinen Schwanz ebenso wie die Muskeln seiner Beine sehen konnte, dazu Turnschuhe, die er einmal im Jahr gegen neue austauschte, und irgendein T-Shirt oder einen Pullover, die er sich in den Zimmern der anderen zusammenschnorrte. Alle Bücher und Kassetten, die er besaß, waren ausgeliehen und nicht zurückgegeben. Bei Shershah störte es niemanden, dass er kein Geld hatte. Sein Vater hatte ihm etwas Wichtigeres überlassen: dicke, schwarze Locken und orientalische Gesichtszüge, die den perfekten Rahmen abgaben für das Erbgut seiner weichen, glatten, französischen Mutter. Weiter brauchte Shershah nichts.
    Als ich die Augen wieder aufschlage, sitzt Clara mir gegenüber, aufrecht, im Schneidersitz, die offenen Haare umrahmen sie als eine große Wolke. Ich schreie, weil ich sie für eine Erscheinung halte, will aufspringen und stoße mich an der scharfen Kante der Glasplatte.
    Ruhig, sagt Clara, ganz ruhig.
    Ihre Stimme klingt, als spräche sie mit einem Tier, einem Ochsen, der nicht in den Viehtransporter steigen will. Das beruhigt mich. Ein strahlendes Lächeln spaltet ihr Gesicht, sie sieht glücklich aus. Ich weiß nicht, wie lange sie schon dort sitzt, wahrscheinlich ist es spät. Von draußen presst die Nacht ihre glatte schwarze Haut gegen die Fensterscheibe.
    Sprich einfach weiter, sagt sie, bitte.
    Ich spule ein Stück zurück, um den Anschluss zu finden. Fast wird mir schlecht vom Klang meiner Stimme. Meine Art zu sprechen hat etwas aufdringlich Fleischiges. Man hört jedes noch so feine Schnalzen, mit dem sich die Zunge vom Gaumen löst; man hört die Backenzähne aufeinander reiben und das knisternde Aufbrechen trockener Lippen. Es ist, als würde ich Sprache essen. Clara streckt den Arm aus und drückt die Aufnahmetaste.
    Wir fuhren dann öfter zusammen nach Holland, sage ich.
    Keine Ahnung, worauf ich hinauswill. Ich lasse die Augen zu, fummele mir eine Zigarette zwischen die Lippen. Clara hat gar nichts zu den Löchern in ihrem Teppich gesagt. Ich inhaliere dicht am Mikro. Das wird ein lautes Rauschen geben auf dem Band.
    Du meinst, sagt Clara betonungslos, ihr hattet sonst nicht viel miteinander zu tun.
    Genau, sage ich, Jessie war Shershahs Freundin, nicht meine. Ich stand auf andere Mädchen, große, saubere Mädchen, die von der Klosterinsel auf unsere Schule kamen, wenn sie keine Lust mehr hatten auf die schwarz-weißen, sackförmigen Nonnen dort. Ich vergötterte diese Mädchen aus fünf bis hundert Metern Entfernung. Ich war fett, und einige meiner Pickel erreichten die Größe von Weintrauben.
    Ich schiebe mir ein paar Finger in den Mund und schmatze darauf herum.
    Jessie hing wie eine Klette an Shershah. Jede Minute, in der er ihre Anwesenheit duldete, verbrachte sie bei ihm. Und für seine Verhältnisse war das erstaunlich häufig. Dabei glaube ich nicht, dass er jemals Hand an sie gelegt hat. Obwohl sie es mit Sicherheit erlaubt hätte. Sie hätte ihm alles erlaubt. Es war seltsam mit anzusehen. Es war, als wäre gleich am ersten Tag in ihrem Kopf eine Mechanik eingeschnappt, mit zufriedenem Klicken. Wenn ich sie mit ihm zusammen sah, musste ich bei ihrem Anblick immer an Metall denken, an ein entsichertes Maschinengewehr, das Shershah unablässig im Visier behielt. Sie sprach fast nichts, und ihr Blick folgte ihm überallhin. Kalt. Sie reagierte nicht auf die Art, wie er an seiner Unterlippe zupfte und dabei den Kopf schräg hielt, dass ihm eine lange schwarze Locke ins Gesicht fiel und sich im Luftstrom seines schnellen Atems bewegte. Auch nicht darauf, wie er mit gespreizten Beinen saß, um seine Oberschenkelmuskeln hervorzuheben. Immer sah sie ihn auf die gleiche Art an. Ihr Blick war wie eingerastet auf seinem Gesicht.
    Aus Rücksicht auf Clara drücke ich die Zigarette auf dem Couchtisch aus und nicht auf dem Boden. Dabei öffne ich die Augen und sehe, wie sie mich anschaut: Ihr Blick ist eingerastet auf meinem Gesicht. Sie lächelt immer noch.
    Eines Nachts dachte ich trotzdem, jetzt wäre es soweit. Ich schlief schon und erwachte vom Geruch. Es roch fischig nach Sex und wachsig nach Kerzen. Ohne die Atemfrequenz zu ändern blinzelte ich ein paar Mal und bewegte den Kopf, bis mir das Kissen den Blick freigab auf Shershahs Bett an der gegenüberliegenden Wand. Ich hatte mir eingebildet, Jessies

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