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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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sie.
    Sie ist im Haus Morgenland, sagte er.
    Das hier ist Abendland, sagte ich überflüssigerweise.
    Shershah legte mir die Hand auf die Stirn.
    Max, sagte er, ist mein privater Philosoph.
    An Jessie fiel vor allem auf, wie klein sie war. Ihr Gesicht wurde optisch vergrößert durch den Haarkranz, aber ihre Hände und Füße waren die eines Kindes. Die Füße hatte sie auf der Lehne von Shershahs Schreibtischstuhl abgelegt, und die Teerschicht an ihren winzigen Sohlen war mehrere Millimeter dick. Sie ist bis zum Schluss nicht mehr viel größer geworden, vielleicht, weil sie schon mit zehn Jahren zu rauchen angefangen hat. Ihre Augen aber waren erwachsen. Es waren harte Augen, sie starrten wie Fremdkörper aus ihrem Gesicht und waren unverwandt auf mich gerichtet. Es war mir unangenehm.
    Du läufst wohl immer barfuß, fragte ich.
    Sie antwortete nicht.
    Jedenfalls seit ich sie kenne, sagte Shershah, ist sie barfuß.
    Ich wunderte mich über ihn. Wir wohnten seit ein paar Wochen im gleichen Zimmer, saßen in der gleichen Klasse und aßen am gleichen Tisch, und seine Leidenschaft für andere Menschen hatte bisher noch nicht einmal ausgereicht, um auf Anfrage den Salzstreuer zu reichen, geschweige denn eine an jemand anderen gerichtete Frage zu beantworten. Seit ich ihn kannte, waren bereits drei Mädchen in sein Bett und wieder herausgestiegen, weiß Gott keine Mauerblümchen, und er fand nicht, dass er sie deshalb nach ihren Namen fragen müsste. Shershah hatte eine hervorstechende Eigenschaft, man hätte auch sagen können: ein Problem. Er war schön.
    Als ich aufs Klo muss, beeile ich mich, nehme mir kaum die Zeit zum Abtropfen und kehre auf meinen Platz zurück. Ich überlege, ob ich mir das Band anhören soll. Aber dann fällt mir wieder etwas ein.
    Es war in der Nacht dieses ersten Tages, als ich eine erste Ahnung davon bekam, was Shershah an Jessie fand. Lange nach Sperrstunde spazierte sie plötzlich in unser Zimmer, ohne anzuklopfen, obwohl sie nicht sicher sein konnte, dass keiner von uns wichste oder mit schlackerndem Schwanz nackt herumhüpfte, Luftgitarre spielend zur gedämpften Musik von The Doors. Vermutlich wäre ihr das nicht weiter aufgefallen. Ich hatte einen Joint geraucht, lag friedlich im Bett und las. Shershah saß am Tisch, malte mit Aquarellfarben auf einen Pappkarton und achtete darauf, sich Hände und Kleidung mit Farbe zu beschmieren, damit am nächsten Tag jeder sehen konnte, dass er gemalt hatte. Jessie blieb kurz hinter der Türschwelle stehen.
    Klingeling, hier kommt der Eiermann, sagte sie, will jemand was kaufen.
    Wir hoben die Köpfe.
    Ich frag nur einmal, sagte Jessie, es gibt hier noch viele andere Zimmer. Wollt ihr was oder nicht.
    Was denn, fragte ich.
    Wie teuer, fragte Shershah gleichzeitig.
    Hundertfünfzig Mark, sagte Jessie.
    Ich kapierte erst jetzt, dass es nicht um Haschisch ging.
    Nee danke, sagte ich.
    Kein Geld, sagte Shershah.
    Jessie zuckte die Achseln und verschwand wieder. Es war klar, dass sie nach zehn Uhr abends nicht einfach durch den Haupteingang gelaufen sein konnte, um ins Abendland zu gelangen. Der war mit absoluter Sicherheit verschlossen. Später kriegte ich mit, dass sie auf die Balustrade kletterte, das Gitter aus dem Lüftungsschacht nahm und hineinkroch. Keiner der Betreuer wäre je auf die Idee gekommen, dass einer von uns da durchpassen könnte. Diese Art von Lüftungsschächten gab es in allen Gebäuden, Jessie konnte sich als Einzige frei bewegen. Sie nutzte das nur einmal pro Woche und nur für ihre gewissenhaften Rundgänge, auf denen sie Kokain an jeden verkaufte, der es sich leisten konnte.
    Meine eigene Stimme beginnt mich einzulullen. Ich schließe die Augen, rücke ganz nah ans Mikrophon heran und spreche leise, fast flüsternd.
    Das konnten die meisten außer mir und Shershah. Meine Mutter besaß nichts, abgesehen von mir und einem Daimler der S-Klasse, für dessen Erhaltung sie die Alimente meines Vaters verbrauchte, die eigentlich für die Internatskosten bestimmt waren. Immerhin förderte der Wagen das Funktionieren meines Soziallebens. Bei ihren gelegentlichen Besuchen fuhr meine Mutter damit bis dicht an das Gebäude heran, und ich konnte, weithin sichtbar, in das silberfarbene Fahrzeug einsteigen. Das war wichtig. Die anderen hätten sonst nicht gewusst, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollen.
    Shershahs Vater war Botschafter in Äthiopien und hatte jeden Kontakt abgebrochen. Er hielt Shershah für einen Scheißkerl, er

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