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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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hörte Jessies nackte Füße hinter uns aufs Pflaster patschen, ich hörte sie keuchen.
    Ihr rafft’s noch nicht, sagte sie.
    Ihre Stimme klang plötzlich tiefer als sonst, ruhiger. Älter.
    Wir müssen mit der nächsten Gelegenheit nach Wien, sagte sie, sonst kriegen wir den Ärger unseres Lebens. Alle drei. Versteht ihr das?
    Wir tauchten in die Unterführung ab, die Wände waren so schmutzig, dass man die dilettantischen Graffiti kaum noch sehen konnte. Wir umrundeten den Park, gleich darauf erschien die beleuchtete Glasbude, in der Jessie den Burger erstanden haben musste. Ich steuerte sofort auf die Klotür zu und erreichte sie genau im richtigen Moment. Es gab sogar Papier. Ich hätte weinen können.
    Als ich zurückkam, saßen sie am Tisch, und vor Jessie lag ein schwarzer Plastikkasten, den ich einen Moment lang für eine aufklappbare Tischhöhensonne hielt. Meine Mutter besaß so ein Gerät. Dann bemerkte ich das Spiralkabel, es führte von dem Kasten zu Jessies Ohr und endete dort in einem gewöhnlichen Telephonhörer.
    Die weißen Wölfe, sagte sie in die Sprechmuschel.
    Dann hörte sie zu. An meinem Platz stand ein Salat, daneben zwei trockene Brötchen und ein Glas Milch. Ich war gerührt. Obwohl Milch das Schlechteste ist, was man bei Durchfall zu sich nehmen kann.
    Mit dem Zug, sagte Jessie.
    Mir blieb ein Maiskorn im Hals stecken.
    Das ist nicht dein Ernst, keuchte ich.
    Doch, sagte sie, in Mailand umsteigen und dann gleich weiter bis Paris.
    Paris??, fragte ich. Das ist ein höllischer Umweg!
    Jessie zuckte die Achseln.
    Anweisung von oben, sagte sie.
    Wie lang soll das dauern, fragte Shershah.
    Abfahrt um sieben Uhr früh, sagte sie, Ankunft in Wien nach Mitternacht.
    Das überlebe ich nicht, sagte ich.
    Ach komm, sagte Shershah.
    Er hatte seinen toten Punkt überwunden. Vor ihm lagen drei oder vier leere Pappschachteln in unterschiedlichen Farben, dazu ein paar übrig gebliebene Pommes frites. Er pustete in seinen Kaffee und sah frisch aus. Im Gegensatz zu mir hatte er den halben Tag lang im Auto geschlafen. Ich war dreizehn Stunden gefahren und hatte zwei Stunden lang geglaubt, wegen des gestohlenen Autos auf dem Bahnhofsplatz von Bari zusammengeschlagen zu werden. Jessie trug ihr Funktelephon zur Theke und wechselte auf Italienisch ein paar Worte mit dem Imbissbudenbesitzer, bevor er ihr das Gerät abnahm und im Hinterzimmer verstaute. Ich hörte, dass er sie mit ihrem Nachnamen ansprach. Dann ging sie aufs Klo. Ich beugte mich zu Shershah vor.
    Hör zu, Arschloch, sagte ich. Warum erklärst du mir nicht einfach, was hier abgeht?
    Damit du es nicht verbocken kannst, sagte er schlicht.
    WIE bitte?, fragte ich.
    Was willst du, fragte er, hat doch alles gut geklappt. Eine perfekte Choreographie.
    GEKLAPPT, sagte ich, ich bin fast krepiert vor Angst.
    Sprich leise, sagte er. Genau das meine ich. Du bist unlocker. Du machst zu viel Wind.
    Mir fuhr erneut ein Messer in die Eingeweide, ich krümmte mich auf dem Stuhl, ich konnte nicht antworten.
    Mäxchen, sagte er, du hast einen Führerschein, und damit sind bereits alle Qualitäten aufgelistet, die dich auszeichnen.
    Er lehnte sich großkotzig auf seinem Stuhl zurück.
    Du machst hier Ferien, sagte er, so wie du immer und überall Ferien machst. Für mich geht es um die Zukunft.
    Du willst in Zukunft für Herbert arbeiten, fragte ich mühsam.
    Das ist der beste Job auf der Welt, sagte er.
    Deshalb hängst du mit Jessie rum, fragte ich.
    Das Mädel liebt mich, sagte er, und Liebe ist immer egoistisch. So haben wir alle gewonnen.
    Du bist ein verdammtes Schwein, sagte ich.
    Er lachte, und Jessie, die vom Klo zurückkam, freute sich, als sie ihn lachen sah.
    Um vier Uhr früh rief der Mann hinter der Theke Jessie etwas zu, und sie grüßte mit der Hand und trieb uns auf die Straße. Mir fielen im Gehen die Augen zu, aber meinem Bauch ging es vorübergehend besser.
    Ich will zum Hafen, sagte Jessie, kommst du mit.
    Sie meinte Shershah. Er zeigte ihr einen Vogel.
    Ich lege mich zu den Interrail-Fotzen, sagte er, weckt mich, wenn der Zug kommt.
    ICH begleite dich, sagte ich zu ihr.
    Sie griff meine Hand, umklammerte Mittel- und Ringfinger, dann rannte sie los und ich hinter ihr. Meine Füße bewegten sich von selbst, ich war kaum noch da, stolperte vorwärts, es kam mir unerträglich schnell vor. Die Stadt flog in Fetzen vorbei, schälte sich von uns ab, ich sah schmucklose Häuser mit einem gelblichen, an manchen Stellen vom Alter braun verfärbten

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