Adler und Engel (German Edition)
Westbahnhof. Er überreichte Shershah ein durchsichtiges Plastiksäckchen, in dem sich unsere Tabakbeutel, Shershahs Kassetten, ein Paar gebrauchter Socken, zwei deformierte Schokoriegel und einige selbstgedrehte Zigaretten befanden. Es sah aus, als wären wir gestorben und jemand hätte uns die Habseligkeiten aus den Hosentaschen genommen, bevor wir in die Leichenhalle geschoben wurden. Ich klappte zusammen.
Im Krankenhaus hängten sie mich an den Tropf und flößten mir fünfeinhalb Liter Wasser ein. Der Arzt zeigte mir einen Spiegel, meine Haut war faltig wie bei einem alten Mann. Er sagte mir, dass ich fast verdurstet wäre.
Eine Woche später holte meine Mutter mich mit dem Daimler aus dem Krankenhaus ab. Nach Ende der Ferien kamen Shershah und Jessie nicht in die Schule zurück, und es dauerte nur wenige Tage, bis ich begriff, wie sehr ich mich in Jessie verliebt hatte.
14 Griffe und Schritte
D urch das kleine quadratische Treppenhausfenster sehe ich den Mond, er liegt in Wolkenwirbeln versunken wie auf dem Grund einer Sahneschüssel. Die Sonne hat ihm einen zerwühlten, nassgeschwitzten Himmel hinterlassen und ist aufgestanden, um ihm für ein paar Stunden das Bett zu überlassen. Ein paar selige Stunden, in denen es dunkel sein wird und ruhig.
Ich fahre mir mit den Händen durch die Haare und finde noch einen Schleimfaden, den Jacques Chirac dort hinterlassen hat, als er mich weckte. Auf meinem Unterarm ist ein rotes Muster in die Haut gedrückt, es zeigt unverkennbar die Oberfläche des DAT-Recorders, mit Stop und Play und Rewind-Taste. Ich werde so lange spazieren gehen, bis der Abdruck verblasst ist.
Die Küche sieht kleiner aus als sonst, es quetschen sich vier Personen um den winzigen Tisch. Das Gespräch bricht ab, als ich im Türrahmen erscheine. Es ist schwierig, die Gesichter auseinander zu halten, die mich anstarren und ständig ineinander schwimmen. Nach einer Weile erkenne ich Claras Perücke, und dann den Ziegenbart des Technikers. Der Stallgeruch der Uni hängt in der Luft. Bei Clara allein ist es nicht so auffällig, aber zu viert sind sie fast schon ein Seminar, vielleicht über die sozialethischen Konsequenzen des kollektiven Eintritts in die postmateriale Wertegesellschaft. Juristen dagegen sind nie Studenten, sie nennen sich schon im ersten Semester gegenseitig Kollegen und sind immer gut gekleidet, weil ihnen jeder Tag ein Vorstellungsgespräch bedeutet.
Ich knalle das Eis vor Clara auf die Tischplatte. Solero Waldfrucht.
Hab dir was mitgebracht, sage ich.
Fast ist es schade, die Stille zu unterbrechen, wir fingen doch gerade an, uns daran zu gewöhnen. Vielleicht hätten wir einfach weiter Zeit vergehen lassen und dabei genießen können, wie es immer unmöglicher wird, ein Wort zu sagen. Das Eis ist von einer anderen Tankstelle und es ist eine andere Sorte als letztes Mal.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, sage ich.
Toll, sagt Clara.
Das Fenster hinter ihr steht offen, sie hat Glück und trifft die Öffnung, als sie das Eis lässig über die Schulter wirft, ohne sich umzudrehen. Gemeinsam hören wir den leisen, raschelnden Aufschlag unten auf der Straße.
Danke, sagt sie freundlich.
Das Mädchen neben dem Techniker hechelt ein paar Mal mit quietschendem Beiklang, vermutlich ist es ein Lachen. Für einen Moment gelingt es mir, sie anzusehen; blass und rothaarig erinnert sie mich an Maria Huygstetten. Hinter ihr über der Stuhllehne hängt ein Herrenjackett, es ist groß wie ein Segel und deckt ihr den Rücken wie ein Paar dunkler Adlerschwingen, an eine Ophelia montiert.
Der da ist Tom, sagt Clara, und die da, die aussieht wie deine Ex-Sekretärin, heißt in diesem Fall nicht Maria, sondern Susanne.
Natürlich hat sie mal in der Kanzlei vorbeigeschaut, nur um zu gucken, wie es da so ist. Vielleicht hat sie sich sogar unterhalten mit Maria. Scheißegal.
Hallo, haucht Susanne.
Sie kann höchstens zweiundzwanzig sein, und es kommt mir vor, als schaute sie mich bewundernd an. Vielleicht findet sie Männer Mitte dreißig erotisch. Eine Sekunde lang frage ich mich, ob Clara mich hier als ihren Freund einführt.
Ich muss mir die Nase pudern, sage ich.
Vom Wohnzimmer aus höre ich, wie sie ihr Gespräch wieder aufnehmen. Ich ärgere mich, und ich ärgere mich so lange weiter, bis ich eine ganze Ecke Couchtisch abgekokst habe; dann fließt wieder Freundlichkeit in mich ein wie Wasser in eine Schleuse und hebt mich hoch wie ein Boot und die Tore öffnen sich und ich
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