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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Entfernungen zu überschlagen.
    Mehr als zwei Stunden kann es nicht mehr dauern, sagte ich.
    Das sollte es auch nicht, sagte er, es wird gerade Mitternacht.

13 Bari
    A ls der nächste Parkplatz in Sicht kam, schmerzte meine Blase so sehr, dass ich nicht wusste, wie ich das Auto verlassen sollte. Mein Unterbauch fühlte sich an wie ein straff mit Haut bespannter Stein. Gebückt entfernte ich mich vom Wagen, um am ersten Zaunpfahl meine Hose zu öffnen. Shershah trat neben mich. Der Parkplatz war unbeleuchtet, es war stockdunkel. Das Geräusch des auf den trockenen Rasen fallenden Urins erschien mir ungewöhnlich laut. Um uns herum leuchteten braun-weiße Flecken im Gras, Trucker-Kacke auf Papiertaschentüchern. Shershah war vor mir fertig und zog den Reißverschluss seiner Jeans hoch. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er keine Unterwäsche trug.
    Plötzlich richtete er sich ruckartig auf. Er streckte den rechten Arm aus, um mir auf die Schulter zu tippen, griff aber vorbei und bewegte in der Luft seinen Zeigefinger auf und ab.
    Hey Mann, sagte er, das glaubst du nicht.
    Ich drehte mich um und stellte mich neben ihn. Der Parkplatz sah genauso aus wie vorher, ein breites Stück Asphalt ohne Markierungen, ein zertretener Grasstreifen mit angrenzendem Zaun und eine Reihe verkrüppelter Bäume. Nur eine Stelle hatte sich verändert. Die Stelle, auf der unser Auto gestanden hatte.
    Du hast den Schlüssel stecken lassen, flüsterte Shershah, du verdammter Schwanzlutscher.
    Mir fiel das Blut in die Füße und wurde gleich darauf von dort aus mit enormem Druck zurück nach oben gepumpt, als hätte ich einen Springbrunnen in mir. Dann sah ich nach unten, auf die Hand, die noch immer mit Daumen und Zeigefinger meinen inzwischen abgetropften Schwanz hielt. Mittel-, Ring- und kleiner Finger waren zu einer halben Faust geschlossen, aus der der Bart des Autoschlüssels herausschaute. Ich schloss meine Hose und hielt Shershah den Schlüssel hin. Ohne die Anwesenheit eines Autos fühlte sich der Schlüssel lächerlich an.
    Scheiße, flüsterte Shershah, verdammte Scheiße.
    Dann fing er plötzlich an zu lachen. Er schlug sich auf die Oberschenkel.
    Die verwichsten Itaker, das ist doch nicht zu fassen.
    Hast du deinen Pass, fragte ich.
    Wie ein Mann griffen wir beide mit der rechten Hand nach den Gesäßtaschen unserer Hosen.
    Alles klar, sagte er.
    Die werden uns steinigen, sagte ich.
    Ist doch nicht unsere Schuld, sagte er, die werden uns fair behandeln.
    Darauf freue ich mich, sagte ich.
    Eine Weile schwiegen wir.
    Oh Mann, sagte er plötzlich, meine Kassetten, mein Dope, mein Tabak.
    Ich legte mich auf den Rücken, der Asphalt war warm, ich versuchte, meinen Kopf leer zu machen, die Seele vom Körper zu trennen und woandershin fliegen zu lassen, nach Hause ins Internat, zu meiner Mutter, von mir aus auch nach Bari. Als ein Auto in den Parkplatz einschwenkte, uns mit seinen Scheinwerfern die Schatten vom Körper riss und auf den Waldrand warf, war es kurz nach eins. Shershah sprang auf die Füße und sprintete auf den aussteigenden Italiener zu. Der hob die Arme vors Gesicht, knallte die Tür zu und verließ den Parkplatz mit quietschenden Reifen.
    Super, sagte ich.
    Halt die Schnauze, sagte Shershah.
    Der nächste Wagen wurde von einer Frau gesteuert. Die Innenbeleuchtung brannte über ihrem Kopf und brachte Reflexe in ihre dicken schwarzen Haare.
    Na also, sagte Shershah.
    Er rubbelte mit beiden Handflächen kurz über sein Gesicht. Diesmal blieb er stehen, winkte nur und ließ die Frau auf sich zukommen.
    Do you speak English, fragte er.
    Drei Minuten später saß ich auf der Rückbank und hatte die Knie an die Brust gezogen. Es war ein winziger Wagen, eigentlich ein Zweipersonenmodell. Der Motor befand sich im Kofferraum, gleich hinter meinem Rücken, und dröhnte so laut, dass ich nicht verstehen konnte, was vorne gesprochen wurde. Manchmal reichte Shershah die Filterzigaretten, die er von der Frau bekam, nach hinten und ich nahm einen Zug. Sie war nur ein paar Jahre älter als wir, vielleicht Anfang zwanzig, und sie fuhr ausschließlich auf dem rechten Fahrstreifen und nie schneller als neunzig.
    Wir schafften es bis halb drei ins Stadtzentrum. Ich sah ein größeres beleuchtetes Gebäude und begriff, dass es der Bahnhof sein musste; das Mädchen hatte uns zum vereinbarten Treffpunkt gebracht. Zum Abschied nahm Shershah ihr Gesicht in beide Hände, sie drehte den Kopf zur Seite, stieg schnell ein und fuhr davon.
    Die Nacht

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