Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
ist.
    Also bis später, sage ich.
    Jacques Chirac und ich steigen die Treppen hoch. Vier Treppen. Als es nicht mehr weitergeht, setze ich mich auf die marmorierten Bodenfliesen, lehne den Rücken an die Speichertür und schalte den Recorder wieder ein.
    Shershah hatte außer Alkohol nur Chips und Schokoriegel gekauft, von denen letztere flüssig in ihren Folien glitschten wie Sperma in einem Kondom. Mein Magen schmerzte vor Hunger, ich aß eine Tüte Chips leer. Die Magenschmerzen wurden schlimmer. Das Meer war dunkelblau, fast schwarz, und versprach neues Leben. Ich wollte schwimmen. Mit einer Hand steuerte ich den Wagen die schmale Küstenstraße entlang und hielt Ausschau nach einsamen Badebuchten. Die gab es nicht. Es gab Hotels, die so dicht beieinander standen, dass der Eindruck entstehen konnte, es handele sich um ein einziges, kilometerlanges Gebäude.
    Wir können hier nicht halten, sagte Shershah.
    Er klang plötzlich hellwach, und bis auf die knallroten Augen sah man ihm nicht an, was er an Alkohol und Dope in den vergangenen acht Stunden hinter sich gebracht hatte.
    Keine Ausflüge, sagte er, keine Tankstellen, keine unnötigen Verzögerungen.
    Ich schaute ihn an. Natürlich hatte er recht. Er grinste.
    Das ist ein Job, sagte er, kein Urlaub.
    Für dich, sagte ich, ist das kein Job, sondern eine Spazierfahrt. Ich kann nicht mehr, kapierst du das?
    Nur noch sieben Stunden, sagte er und lachte.
    HALTS MAUL, brüllte ich ihn an.
    Auf einmal spürte ich, wie mir das Blut von innen gegen die Wangen gepumpt wurde, sogar in meinen Augen klopfte es. Ich hätte ihn umbringen können. Ich hatte mich übernommen, ich hatte keine Idee, wie ich uns beide heil nach Bari bringen sollte. Ich hatte Angst.
    Bleib locker, sagte Shershah.
    Er klang nett und ein bisschen erschrocken, das beruhigte mich. Ein Straßenschild tauchte auf.
    Komm, sagte er, wir fahren zurück auf die Autobahn, und beim ersten kleinen Parkplatz halten wir an und du legst dich in den Schatten und pennst eine Stunde.
    Ich antwortete nicht, bog aber an der nächsten Kreuzung ab und beschleunigte auf dem Zubringer.
    Vor der Speichertür staut sich warme, stickige Luft, mir läuft derselbe Schweiß wie damals noch einmal am Körper herunter, er stinkt süßsauer, er brennt auf der Haut. Jacques Chirac liegt auf der Seite und hechelt stoßweise, seine Pfoten kratzen dabei über den glatten Boden. Damals war ich am Ende, ich wusste nicht, wie weitermachen, und nicht, wie aufhören. Heute gibt es nichts mehr, womit ich aufhören könnte. Damals war ich verzweifelt, aber ich war auch glücklich. Ohne es zu wissen.
    Shershah weckte mich, und es kam mir vor, als hätte ich höchstens drei Minuten geschlafen.
    Okay, sagte er, wir müssen weiter.
    Als ich mich aufgerichtet hatte, sah ich, dass er ein riesiges Schinkensandwich in der Hand hielt. Jetzt tat es mir leid, dass ich ihn in Gedanken mit der Maschinenpistole umgemäht hatte. Er musste das Sandwich für mich bei irgendeiner der rastenden Familien geschnorrt haben. Da standen Klappstühle und -tische am Rand des Parkplatzes, dann verzerrte sich das Bild und tanzte in weißen und bunten Flecken vor meinen Augen herum. Shershahs Gesicht floss vor mir auf grünem Hintergrund hin und her. Ich aß das Brot auf.
    Shershah, sagte ich noch kauend, ich kann nicht weiter.
    Steh auf, sagte er. Kreislauf.
    Er zog mich in ein gekacheltes Häuschen mit Aluminiumtür, in eine der Kabinen. Es stank, das Schinkensandwich hob und senkte sich in meinem Magen. Ich vermied es, das Klo anzusehen, das nur ein Loch im Boden war. Shershah gab mir ein Röhrchen. Ich beugte mich über seine Hand wie ein Pferd, das sich behutsam ein Stück Zucker nimmt.
    Danach bediente ich den Wagen, als wäre er ein Teil von mir. Gangschaltung Kupplung Bremse Gas, es war wie Tanzen. Ich hörte erst zwei Stunden später bei Pescara wieder auf zu grinsen. Manchmal sahen wir das Meer mit dem sich verfärbenden Himmel darüber, und jedes Mal stieß Shershah mich in die Seite und jauchzte. Der Mond ging links von uns auf und blinkte stroboskopartig hinter den vorbeisausenden Bäumen.
    Wie spät ist es, fragte ich, wo sind wir, ich muss pissen.
    Shershah rappelte sich hoch und verfolgte mit zusammengekniffenen Augen eines der unbeleuchteten Straßenschilder.
    Neunundzwanzig Kilometer bis San Severo, sagte er.
    Das war einer der letzten Städtenamen, die ich hatte auswendig lernen müssen. Ich versuchte, die Gesamtstrecke in Abschnitte einzuteilen und die

Weitere Kostenlose Bücher