Adler und Engel (German Edition)
Anstrich, ich fiel über die Kanten der großen Bodenplatten. Ich begann zu schwitzen, mein Übergewicht packte mich ein wie ein dicker Ski-Anzug. Bei jeder Bewegung musste ich einen Widerstand überwinden, Fettpolster zusammenquetschen, um Arme und Beine anwinkeln zu können. Rennen konnte ich nie. Jessie zeigte Gnade und wir gingen langsam.
Die Gebäude wurden größer, grauer und neuer und waren nach einem Prinzip, das nicht dem gewohnten Muster von Straßenzügen folgte, über eine Asphaltfläche verteilt. Das war der Hafen. Maschendraht. Was ich für einen weiß getünchten Wohnblock gehalten hatte, war eine der Griechenland-Fähren mit aufgesperrtem Rachen. Auch hier gab es Interrailer, wie ein Haufen Altkleidersäcke umlagerten sie das verschlossene Tor zur Personenabfertigung. Jessie führte mich am Zaun entlang, wir ließen mehrere der großen Arbeitshallen aus Wellblech hinter uns, und dann standen wir an einer Kante, so überraschend, dass ich beinahe den einen Schritt zu viel getan hätte.
Bis zur Wasseroberfläche ging es gut vier Meter runter. An der algenschleimigen Wand hingen große blaue Plastikwürste. Neben uns stand ein runder schwarzer Metallpfeiler, der mir fast bis zur Hüfte reichte und dick war wie ein Baum.
Hier legt fast nichts mehr an, sagte Jessie, hier bin ich manchmal.
Sie setzte sich auf den Pfeiler, ihre Beine erreichten den Boden nicht. Es gab keinen Platz für zwei. Ich stellte mich neben sie. Sie saß einfach da, mit rundem Rücken, schob zwei oder drei Finger der linken Hand in den Mund und fing an, auf den Nägeln zu kauen. Als ich das Geräusch nicht mehr ertragen konnte, griff ich die Hand und zog sie ihr aus dem Mund.
Jessie, fragte ich, was ist das mit den Wölfen, den Löwen und den Schnecken?
Sie schob die andere Hand in den Mund und fing wieder mit Kauen an. Minuten vergingen. Das Meer plätscherte langweilig gegen die Mauer, es stank, es sah uninteressant aus. Hinten am Horizont, hinter dem ganzen riesigen, nachtschwarzen Stahlkörper von Wasser, zeigte sich die erste Helligkeit des beginnenden Tages.
Als ich klein war, sagte Jessie, ging es mir sehr schlecht. Ein großer Adler brachte mich in ein Haus, wo er Kinder sammelte. Dort saß ich am Fenster und sah dem Wetter zu und den Jahreszeiten. Den Sommer habe ich gehasst, er tat mir weh im Kopf, zu viele Farben und Geräusche. Unten stand eine Hecke aus Sonnenblumen, das Gelb schrie zu mir herauf, ein Ton wie Messerklingen auf Porzellan. Die Schnecken schafften es nicht bis zu meinem Fenster. Sie blieben auf halbem Weg an der Hauswand kleben und verkrochen sich in ihren Häusern. Bis zum Regen. Dann kamen sie mich besuchen, und ich habe sie immer gut gefüttert, wenn sie den weiten Weg hinter sich hatten. Verstehst du?
Ich nickte. Sie schaute zu mir auf, ihr Gesicht war wie ein blasser, flacher kleiner Mond, es gab Mare Crisium und Mare Nubium aus Straßenschmutz darin. Crisium, die Gefahr; Nubium, die Wolke.
Manchmal, sagte sie, kam Ross mich besuchen. Er erklärte mir, dass ich warten musste und zuschauen, wie die Tiere sich abwechselten. Wenn es heiß war, sagte er: Jetzt grinsen die gelben Löwen und die weißen Wölfe sind weit weg. Wir müssen auf sie warten. Und ich wartete. Lange. Bis es kühler wurde. Die Schnecken kamen und dann kamen die weißen Wölfe und lächelten. Sie taten meinen Augen gut und meinem Kopf.
Jessie weinte auf eine Art, dass es aussah, als hätte sie nur eine Bindehautentzündung. Ihre Augen tränten einfach, sonst nichts.
Ich habe mehrmals gesehen, sagte sie, wie die Tiere sich abwechselten. Ab und zu kam Ross und half mir warten.
Ich sagte nichts. Ich konnte es nicht ertragen. Nach einer Weile sprang sie von ihrem Poller.
Und warum, sagte sie heftig, mag Shershah mich nicht?
Sie schaute mir in die Augen und wollte wirklich eine Antwort.
Er mag dich, sagte ich, mehr als jeden anderen Menschen. Noch mehr kann er nicht. Er hat da einen Schaden, ja?
Einen Schaden, sagte sie, das verstehe ich.
Im Zug erbrach ich mich vier Mal auf dem Klo, dann schlief ich ein. Wenn wir an einem Bahnhof hielten und ich erwachte, waren meine Augen so zugeschwollen, dass ich nicht erkennen konnte, wo wir uns befanden. Aber ich spürte, dass Jessie mit dem Kopf in meiner Armbeuge schlief. An das Umsteigen in Mailand und Paris habe ich keine Erinnerungen. Ich weiß noch, dass Jessie von irgendwoher Wasserflaschen brachte und dass ich das Wasser sofort wieder auskotzte.
In Wien wartete Ross am
Weitere Kostenlose Bücher