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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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schwimme ins Meer hinaus. Tom Techniker betritt das Zimmer.
    Hey Mann, sagt er, lange nicht gesehen.
    Hey Mann, sage ich, fuck off.
    Ich kenne dieses Zimmer, ich kenne es in- und auswendig, ich habe wochenlang Raum für Raum abgegrast wie der Wels die Wände seines Aquariums auf der Suche nach Futter. Diese Wohnung ist ein Teil meines Kopfes geworden, meine Gedanken wehen um die Ecken, trocknen auf den Fliesen im Bad und kondensieren an den Fensterscheiben; meine Gedanken schmatzen durch die Kaffeemaschine, legen den Teppich in Falten, knacken unter Claras Fingern auf der Computertastatur wie unzählige kleine zerdrückte Käfer, wenn sie schreibt. Alles hier drin habe ich befummelt. Tom Techniker ist nicht dabei gewesen. Er gehört nicht hierher.
    Als ich es ihm gerade sagen will, zieht er etwas aus der Tasche, um damit herumzuspielen. Es ist ein Kugelschreiber, dick, in grober Einteilung grellfarbig, gelb-rot-blau. Das Ding zieht mich an, als wäre es ein Loch im Universum, durch das im nächsten Moment alle Materie, alles Dasein hinausgesaugt werden wird.
    Was schaut er denn so, fragt Tom.
    Ich habe keine Zeit zu antworten, ich warte. Ich warte darauf, dass er den Stift dreht, damit ich sehen kann, ob er die Aufschrift trägt.
    Trägt er. I love Wien, wobei das Wort »love« durch ein Herz ersetzt ist. Ich erinnere mich haargenau, wo ich dieses Ding zuletzt gesehen habe. In meiner Ex-Wohnung auf meinem Ex-Telephonschränkchen, inmitten der Verwüstung nach einer gründlichen Suchaktion. Ich spüre, wie sich meine Miene auseinander zieht, es fühlt sich an, als würde mir eine dünne Schicht flüssigen, schnell erstarrenden Wachses über das Gesicht gegossen. Das Grinsen kriege ich nicht mehr weg, es ist wie eingemeißelt.
    Genau so verlasse ich das Wohnzimmer und versuche, mein eigenes Grinsen von mir fern zu halten, wie man einen stinkenden Lappen am ausgestreckten Arm vor sich herträgt. Es grinst auf meinem Gesicht, ich habe nichts damit zu tun.
    Na, war’s witzig, fragt Clara.
    Sie und Susanne streicheln Jacques Chirac. Tom erscheint, jetzt hängt ihm eine Kippe zwischen den schmalen Lippen, und der Stift ist verschwunden.
    Wie heißt der Hund, haucht Susanne.
    Ich sage es ihr, obwohl ich sicher bin, dass sie es schon weiß. Das Grinsen klebt noch immer in meinem Gesicht, jedes Mal, wenn ich den Techniker ansehe, beginnt zudem mein Zwerchfell zu zucken, und ich versuche angestrengt, an etwas anderes zu denken. Mein Herz macht Bocksprünge, der Schweiß läuft mir von den Achselhöhlen aus in Bächen an den Seiten hinunter und speist einen Teich in meinen Schuhen. Unter dem Tisch steht ein Hocker, ich stelle ihn vor die Spülmaschine. Als ich mich drauf setze und zurücklehne, springt die Spülmaschine an; ich fahre herum und ziehe den Bedienungsknopf wieder heraus.
    Clara schaut mich wütend an. Anscheinend spricht man mit mir, möglicherweise schon seit geraumer Zeit.
    Ganz ruhig, sagt Clara, alle wollen wissen, warum der Hund Jacques Chirac heißt.
    Wir wollten ihn Giscard d’Estaing nennen, keuche ich, aber wir wussten nicht, wie man das schreibt.
    Geht’s wieder?
    Clara hockt sich neben mich, sie wischt mir mit irgendetwas über die Stirn. Mir fällt auf, dass die Küche ansonsten leer ist. Sie nimmt mir die Sektflasche weg und legt sie auf den Boden, die Flasche rollt zur Wand, ausgetrunken. Ich lege den Kopf zurück, und die Spülmaschine geht los. Clara hievt mich auf einen Stuhl. Ich spüre ein Drücken auf meinem linken Oberschenkel, dann verstehe ich, dass sie auf meinem Bein sitzt. Das Licht ist aus, die Küche ist friedlich, obwohl Lärm aus dem Wohnzimmer herüberdringt, das Stimmengewirr vieler Leute.
    Clara, sage ich.
    Ich benutze sonst fast nie ihren Namen. Sie ist mir zu schwer auf dem Bein, aber ich will nicht unhöflich sein.
    Ich halte die Leute hier nicht aus, sage ich.
    Meine Stimme krächzt. Clara nickt und zupft sich die Perücke zurecht. Jacques Chirac frisst aus einer halbvollen Salatschüssel, die auf einem Stuhl steht.
    Pass auf, flüstert sie, du machst jetzt genau das, was ich dir sage.
    Sie streichelt meinen Kopf, ihre Hände sind ein wenig feucht und haften an meinen Haaren.
    Nur dieses eine Mal, sagt sie, versprichst du das?
    Okay, sage ich.
    Sie schiebt ihr Gesicht vor mir hin und her, ihre Augen sind merkwürdig, ohne bestimmte Blickrichtung und mehr wie hellblaue Milchglasscherben. Möglicherweise hat sie dahinter den Blick abgewendet und schaut durch die Ohren heraus, in

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