Adler und Engel (German Edition)
eine Kette von U-Bahn-Stationen im Jugendstil vorbei, eine sieht wie die andere aus, und nach jeder fünften tut sich Schönbrunn auf samt Schlosspark, zur rechten Hand. Clara jetzt schlafend neben mir zu haben, wäre wie eine Totenwache.
Sie schaut immer abwechselnd auf die Wandtafel und das Blatt Papier und zeichnet die Kreidefiguren ab. Es ist ein sinnloses Unterfangen, hier wurde mit Sicherheit nichts von Bedeutung zurückgelassen.
Das sieht aus, sagt sie, wie Zeilen in einer Programmiersprache.
Gerade als sie das Wort »Programmiersprache« sagt, sehe ich, mit was für einem Stift sie da schreibt. Er ist dick wie ein Frankfurter Würstchen und leuchtet in drei grellen Farben: Gelb, Rot und Blau.
Wo hast du den Stift her, frage ich.
Wieso, sagt sie, der lag zwischen den Papieren auf dem Schreibtisch.
Eigentlich muss Clara wissen, ob Tom und Jessie sich gekannt haben oder nicht. Aber der Gedanke, dass es in Jessies Leben nicht nur einzelne Erlebnisse, sondern möglicherweise ganze Menschen gab, von denen ich niemals etwas erfahren habe, ist so schwer zu ertragen, dass ich Clara nicht danach frage. Lieber glaube ich an außerordentliche Zufälle, absurde Analogien und an Quantensprünge grellbunter Kugelschreiber.
Zwischen meinen Fingern kitzelt es, ich hebe die rechte Hand ans Licht. Am Knöchel des Zeigefingers klebt ein Haar, es ist dick, schwarz und lockig, und als ich es auseinanderziehe, wird es lang wie ein Unterarm. Unverkennbar orientalisches Haar.
Guck mal, sage ich.
Clara dreht den Kopf und schaut meinen erhobenen Zeigefinger an.
Ich sehe nichts, sagt sie.
Du musst schon herkommen.
Auf ihren Schenkeln befindet sich ein Negativabdruck der Dielenstruktur in Rot, mit allen feinen Fasern und Spleißen. Sie beugt sich über mich.
Das schenke ich dir, sage ich.
Es dauert eine Weile, bis sie begreift.
Ein Haar, fragt sie.
Nimm es, sage ich, lege es zu deinen Akten. Es hat Shershah gehört.
Als sie danach fasst, berühren sich unsere Finger, ich ziehe die Hand zurück. Das Haar klebt weder an ihr noch an mir.
Macht nichts, sage ich, du wirst noch ein paar andere finden in der Hängematte.
Wasser?
Obwohl meine Augen offen sind, kann ich so gut wie nichts erkennen. Ich liege seitlich auf dem linken Ohr und höre deshalb auch kaum etwas.
Wasser??, fragt sie.
Im Hof, sage ich heiser, neben der Tür zum Vorderhaus ist ein Hahn.
Als ich das nächste Mal aufwache, fällt kein direktes Licht mehr durch die topflappengroßen Scheiben, aus denen das Fenster zusammengesetzt ist. Irgendwie bilde ich mir ein, ich hätte im Traum die Anwesenheit von Herberts klimatisiertem Arbeitszimmer gespürt, vier Bezirke von hier, in dem Haus mit den kerkerdicken Wänden am Hohen Markt. Eine große düstere Kühltruhe, mitten in die glühende Stadt hineinmontiert, ein Raum, in dem es nur rechte Winkel gibt und schneeweiße, mit dünner Bleistiftschrift bedeckte Papierseiten, die wie frischgestärkte Wäsche rascheln.
An der Türschwelle bewegt sich ein Schatten, ich höre das Hecheln vom Hund. Mühsam richte ich mich auf. Es plätschert leise, ich versuche, die Zunge vom Gaumen zu lösen, ich muss unbedingt bald etwas trinken. Auf einem der beiden Rollschränke steht jetzt eine Waschschüssel, über der sich Lichtreflexe in kreisförmigen Wellen an der weiß verputzten Wand bewegen. Irgendetwas muss in der Schüssel schwimmen, ab und zu kratzt es leise am Emaille. Bestimmt eine Maus. Sie wird noch eine halbe Stunde durchhalten und dann ertrinken, wenn niemand sie rettet. Ich werde aufstehen.
Oh nein, oh nein!, ruft Clara.
Ich bin wieder eingeschlafen, ich weiß nicht, für wie lange, draußen ist es fast dunkel. Clara hat einen Handtuchturban auf dem Kopf und die Hände vors Gesicht geschlagen, zwischen den Fingern hindurch schaut sie in die Waschschüssel. Anscheinend hat sie es geschafft, sich an dem niedrig angebrachten Wasserhahn im Hof die Haare zu waschen. Ich stelle beide Beine auf den Boden und stehe auf. Die Hängematte schnellt zurück und schaukelt leer hin und her.
Und was ist in dem anderen Schuppen, fragt sie leise.
Ihre Stimme schwankt noch ein bisschen. Die Taschentücher haben sich komplett vollgesogen und bilden eine unförmige, matschige Verpackung für den kleinen Körper. Ich hätte nicht gedacht, dass das Fell einer einzelnen Maus so viel Wasser enthalten kann. Sie liegt auf meiner linken ausgestreckten Hand, während ich mit der rechten eine Furche in den Boden scharre, es wird ein
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