Adler und Engel (German Edition)
kommt es nicht. Ich kenne mich aus, das ist Erstsemesterstoff. Eher wirst du durchs Erzählen den Schuldkomplex wegen deiner toten Tussi los und dann bist du plötzlich wieder flügge.
Es kribbelt in Armen und Beinen, als verliefe eine Ameisenstraße durch die Korridore meines Körpers, ich bräuchte irgendeine Beschäftigung. Am Horizont ist jetzt ein heller Streifen, die Nacht hebt ihren fetten schwarzen Arsch, mit dem sie auf der Landschaft sitzt, langsam vom Rand der Schüssel ab. Ich warte noch einen Moment und überlege, ob ich etwas sagen soll, aber meine Lippen sind taub und faul und wollen sich nicht recht formen um die Worte herum. Also greife ich ins Steuer und reiße es zu mir herüber.
Der Wagen bricht hinten aus und rutscht seitlich quer über alle drei Fahrbahnen. Claras Gesicht ist im Schreck wie zerrissen, ein Auge scheint höher zu liegen als das andere. Sie zieht das Lenkrad zur anderen Seite, ein dumpfer Schlag ist zu hören, als Jacques Chirac gegen die Seitenwand geschleudert wird. Dann schreit sie, das Kreischen der Reifen und ihre Stimme treffen disharmonisch aufeinander. Ich sehe aus dem Fenster. Der Wald, die Hügel, die linke Leitplanke, die Fahrbahn, alles wird wie in Zeitlupe einmal um uns herumgetragen, bevor das Auto auf dem Seitenstreifen zum Stehen kommt. Natürlich auch noch in Fahrtrichtung, und uns ist nicht das Geringste passiert.
Clara liegt über dem Lenkrad, ihr Gesicht betätigt rhythmisch die Hupe, im Takt zum Zucken der Schultern. Das Geräusch nervt mich. Ich fasse ihren Nacken und richte sie auf.
Meine Liebe, sage ich, was mich so unendlich gefährlich macht für dich, ist die Tatsache, dass ich auf mein Leben scheiße und du nicht auf deins. Also gib verdammt noch mal acht, was du sagst.
Sie hört erst hinter Passau wieder auf zu heulen.
Die Grenzanlagen sind noch da, Hinweisschilder teilen die Fahrspuren für LKW, Busse und PKW ein, ringsherum ist der Wald abgeholzt. Aber es brennt kein Licht hinter den großen Fensterscheiben, starr ragen die Schranken im Dunkeln auf. Clara hält sich trotzdem brav auf der Spur, die für PKW ausgewiesen ist. Die Parkplätze sind leer. Wir gleiten mit fünfzig vorbei, ohne eine Menschenseele zu sehen. Das ist Schengen, und ich mag es.
Als wir zum Tanken anhalten, gibt Clara mir ihr Portemonnaie. Ich finde ein dickes Bündel Hundert-Schilling-Scheine, das Geld hatte ich völlig verdrängt. Sieben Stück zupfe ich heraus, um damit Tankfüllung und Zigaretten zu bezahlen. Während der Sprit ins Auto fließt, gehe ich an den Kofferraum und sehe hinein. Ein Karton vom Musikversand, es müssen gut fünfzig CDs darin gewesen sein. Jetzt ist er bis unter den Rand vollgepresst mit Geldscheinen. Ich frage mich, wann und wie sie den Karton in Toms Auto gebracht hat. Jedenfalls nicht in dem Moment, als sie mich und den Wagen entführte.
Obwohl es noch nah am Bayrischen ist, lässt mir der Dialekt des Tankwarts schon die Magensäure hochsteigen. Ich liebe Wienerisch, und alles, was mich daran erinnert, macht mich nervös. Im Rasthof stinkt es nach Frittenfett, es ist sechs Uhr früh, Bratwürste liegen auf dem Grill. Ich warte hinter einer Reihe von Fernfahrern in Unterhemden, deren Stoff sich wellig über die Wülste aus Rückenspeck legt. Ich stehe zu dicht, und als mein Vordermann sich nach mir umdreht, erkenne ich in seinem Versuch, mir drohend ins Gesicht zu starren, in seinen unrasierten, schlaffen Backen und dem feinen Netz aus geplatzten Adern unter seinen Augen mich selbst und meine eigene Wehrlosigkeit. Die dicke Bedienung schwimmt in ihrer gelblichen Schürze zum Lichtschalter, das Neonlicht bricht flackernd in sich zusammen. Ich kaufe Kaffee und zwei Brötchen zum Frühstück.
Draußen finden mich die flachen Sonnenstrahlen, und sofort heizt mein Fleisch sich auf an allen Stellen, die nicht von der Kleidung bedeckt sind. Die Fernfahrer reiben ihre nackten Arme mit Händen, in denen brennende Zigaretten stecken. Nach durchgemachter Nacht sind wir alle stumpf, wund und ausgetrocknet.
Clara führt den Hund auf dem Grasstreifen hinter der Raststätte hin und her, sie hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und die Schultern hochgezogen. Ihr T-Shirt sieht schmuddelig aus, ab und zu kratzt sie sich an den Armen oder im Gesicht. Ihre Fingernägel lassen rote Streifen auf der Haut zurück. Als sie die Plastikbecher und die Papiertüte sieht, lächelt sie schwach. Wir setzen uns nebeneinander auf einen der Holztische und stellen die
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