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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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dass er tot sei, sage ich, habe ich es sofort geglaubt. Und trotzdem nicht das Geringste gefühlt.
    Jessie erzählte dir, er sei tot?, fragt Clara.
    Sie stützt sich auf einen Ellenbogen und schaut von oben auf mich herunter. Ich blase ihr Rauch in die Augen, sie blinzelt trotzdem nicht.
    Ja, sage ich, und Jessie glaubte, dass sie als Nächste dran sei. Sie wollte, dass ich sie beschütze.
    Was war das, fragt Clara, Paranoia?
    Es ist vor allem so, sage ich, dass sie eine kleine Dummheit gemacht hatten.
    Und du hast Jessie beschützt?
    Ja, sage ich, indem ich Shershah umbrachte.
    Gleich platzt ihr der Schädel, ich sehe es an ihrem Blick, der hart ist, als hätte sie sich Stahlwürfel zwischen die Lider geklemmt.
    Das Leben, sage ich schadenfroh, ist voller Paradoxien. Ich habe sie eben vor etwas anderem beschützt, als sie meinte. Vor einer viel schlimmeren Bedrohung.
    Ihr Atem geht schneller, vielleicht ist das ein Anzeichen dafür, dass ihr Denkapparat sich in Bewegung setzt.
    Ich hatte als Kind eine Katze, sagt sie schließlich, und ich konnte nächtelang nicht schlafen aus Angst, sie könnte über die Straße laufen und überfahren werden. Als es dann passierte und wir sie im Vorgarten fanden, wohin sie sich geschleppt hatte, um zu verenden, war es mir egal.
    Mit Shershah war das anders, sage ich. Ich war sowieso immer überzeugt, dass er die dreißig nicht erreichen würde. Er war nicht dafür gemacht.
    Unsinn, sagt sie, Pubertätsromantik.
    Kann sein, sage ich, aber ich hatte recht.
    Kunststück, sagt sie, wenn du selbst dafür sorgst.
    Ich lache kurz auf. Schlagfertig ist sie, und sie gibt ihre Antworten immer, bevor man das letzte Wort des eigenen Satzes zu Ende gesprochen hat. Vielleicht wäre sie eine gute Juristin, nicht im Völkerrecht, aber im internationalen Privatrecht; sie könnte multinationale Unternehmen vertreten bei Streitwerten in Höhe des österreichischen Haushaltbudgets. Als ich mich aufrichte, schreckt sie vor mir zurück, verliert für eine Sekunde die Balance und kippt fast nach hinten um. Während sie schon wieder sicher auf ihrem Ellenbogen lehnt, bleiben ihre im Moment des Schwindels verzerrten Züge noch eine Weile in der Luft stehen, wie das Nachleuchten eines Blitzes, der die geöffnete Pupille trifft, bevor das Auge Zeit zum Zwinkern hatte.
    Ich trinke den Rest Rotwein aus der Flasche. Der Wein schmeckt nicht schlecht, versetzt mich aber nicht wie erwartet zurück in eine der Nächte, in denen ich mit Jessie und zwei Flaschen eben dieser Sorte auf dem Fußboden eines leeren Zimmers hockte und Bilder für sie zusammenphantasierte von Hundeschlitten, die in haushohen Schneestaubwolken über eine endlose weiße Fläche rasen, fast ausgelöscht von dem blendenden Übermaß an Licht. Wir saugten den Talg aus Möwenfederkielen in Form von Kugelschreibern und erlegten Seerobben in Form zusammengerollter Bettdecken; alles, um die kritischen Stunden zwischen zwei und fünf Uhr morgens zu überbrücken, in denen sie ihre Anfälle bekam. Würde ich jetzt wieder den Geschmack dieses Weins auf der Zunge spüren, wäre es vielleicht möglich, mich selbst in der Erinnerung als Teil der Szene zu fühlen und nicht nur wie ein Zuschauer vor der Kinoleinwand. Vielleicht ist es inzwischen ein anderer Wein, den sie in die gleichen Flaschen füllen.
    Es war einer der glücklichsten Momente meines Lebens, sage ich, als ich ihn zusammengebrochen auf der Straße sah.
    Er war mal dein bester Freund, sagt Clara.
    Stimmt, sage ich.
    Du wirst dafür bestraft werden, sagt sie.
    Schon geschehen, sage ich. Jessie ist ebenfalls tot, und das ist, als wäre sie zu ihm zurückgegangen, als hätte sie sich ihm wieder angeschlossen, und mir bleibt nicht einmal die Möglichkeit, selbst zu sterben, ohne dass es wieder nur ein dämliches Nachlaufen wäre.
    Fatal, sagt sie ironisch.
    Vielleicht, sage ich, bist du nicht ganz der richtige Adressat für solche Geschichten.
    Sie lässt sich langsam wieder auf den Rücken sinken, ohne den Blick von mir abzuwenden, sie starrt mir einfach ins Gesicht, bis ich kapiere, dass ich Unrecht habe, dass sie zumindest EINE Fähigkeit besitzt, etwas, das nur ihr gehört. Diese Fähigkeit besteht darin, Typen wie mich ertragen zu können. Hätte ich einen Hut, würde ich ihn jetzt lüften.
    Und du, frage ich später, hattest du jemals ein Gefühlsleben?
    Weißt du, sagt sie, ich hatte mit zwanzig schon fünf Jahre unerwiderter Liebe hinter mir und seitdem hat eigentlich alles nur noch mit

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