Adler und Engel (German Edition)
leise, und was, wenn du keinen Bock mehr hast auf das Spiel?
Sie reagiert nicht. Anscheinend gehört auch sie nicht zu dieser Sorte Mensch. Oder es war die falsche Frage.
Ich lege mich in die Hängematte, ich kann jetzt höchstens durch Zufall einschlafen, mich überrumpeln lassen in einem Moment, in dem ich nicht daran denke, dass es in zwei Stunden fünfunddreißig Grad im Schatten sein wird, dass ich keinen Halt mehr finde an den Tageszeiten, dass Clara neben mir pennt wie ausgeknipst. Dass ich allein bin, ein Mensch, der das Geld für ein Ferngespräch nicht mehr investieren mag, um alte Bekannte anzurufen wie zum Beispiel seine Mutter.
Ich picke eins der Dokumente vom Boden, es ist eine Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, Aktenzeichen 1101 aus 1997, adopted by the Security Council at its 3758th meeting . Die Formeln klingen vertraut in meinen Ohren wie ein Kindergebet. Ich bin klein, mein Herz ist rein, taking note of the letter from the Permanent Representative of Albania , es soll niemand drin wohnen als Jesus allein, reiterating its deep concern over the deteriorating situation in Albania , hab ich Unrecht heut getan, sieh es lieber Gott nicht an, authorizes the Member States to establish a multinational protection force , deine Gnad und Jesu Blut, condemns all acts of violence and calls for their immediate end , machen allen Schaden wieder gut. Das Logo der Vereinten Nationen beginnt vor meinen Augen zu verschwimmen, die Weltkugel unterm Fadenkreuz ist nur noch ein blauer Fleck, der Scheiß schläfert mich ein, ich greife nach dem nächsten Blatt, es betrifft ebenfalls Albanien, das übernächste ist von der NATO zum Thema Unruhen in Albanien, ich hebe noch fünf weitere vom Boden auf, danach weiß ich, dass der ganze Karton voll ist mit Dokumenten zur albanischen Frage, ich prüfe noch einmal die Jahreszahl außen am Karton, 1997. Ein interessantes Jahr, soweit ich noch weiß, ein paar gute Weine, Kofi Annan wird neuer Generalsekretär der U.N., Shershah stirbt, die NATO-Erweiterung wird konkret, Jessie und ich müssen Wien verlassen, die letzten bosnischen Konzentrationslager werden aufgelöst. Vielleicht sollte nicht Clara, sondern ich selbst mich durch ein paar der Unterlagen arbeiten.
19 Stubenfliegen
I ch erwache vom Geräusch eines Flammenwerfers und finde mich in der Hängematte zwischen einer Unmenge zerdrückter Papierseiten. Clara steht vor dem Schreibtisch und zielt mit einem Deospray in die Flamme eines Feuerzeugs in ihrer linken Hand, der Feuerstrahl steht horizontal in der Luft, fast unsichtbar im Tageslicht, und fährt an seinem Ende in einer bläulichen Wolke auseinander. Im letzten Moment, bevor das Feuer einen der Holzböcke erreicht, sehe ich die fingerlange schwarze Spinne, die dort sitzt. Ihr Leib ist in der Mitte zusammengeschnürt, die beiden zum Platzen prallen Chitinteile scheinen kaum miteinander verwachsen, rundherum stehen die Beingelenke hoch in die Luft. Sie ist zu groß für Europa. Sie sitzt da, als wollte sie den Fehler im System markieren, die Stelle, an der sich der Riss in der Realität befindet.
Für den Bruchteil einer Sekunde sieht es aus, als würde sie sich ducken unter dem Ansturm des Feuers, vielleicht wird sie aber auch nur vom Druck der Flammen bewegt. Ihre Beine schnurren blitzschnell an den Körper heran, zusammenschmelzend wie brennendes Haar, der Rumpf fällt vom Tischbein zu Boden, hüpft dort zwei Mal und bleibt liegen, ein kleiner schwarzer Ball. Ich werde trotzdem ab jetzt aus dem Augenwinkel immer einen Fleck sehen an der Stelle, wo die Spinne gesessen hat.
Im Hof schlägt eine Autotür. Clara betritt den Schuppen mit einem Aktenordner und einer Papiertüte vom Bäcker im Arm. Sie trägt die Pagenkopfperücke, einen knielangen schwarzen Rock und knöchelhohe Schnürstiefel, die ich bisher nicht an ihr gesehen habe. Anscheinend war sie einkaufen. Ich weiß nicht, wo sie sich tagsüber herumtreibt, während ich in der Hängematte liege und durch bloße Willenskraft dafür sorge, dass die Zeit nicht stehen bleibt, dass eine Sekunde schwerfällig die nächste über die Kante schubst und der Tag Schrittchen für Schrittchen nach Westen davonkriecht. Bei Clara wäre es vorstellbar, dass sie sich eine Kleinbildkamera umhängt und das Hundertwasserhaus besichtigt. Wahrscheinlicher ist, dass sie Unheil stiftet in der Stadt.
Sie wirft mir die Tüte auf den Bauch, Jacques Chirac wedelt hinter ihr her und bringt mit seiner Schnauze meine
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